Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. 1947 bekam ich einen Sohn. Drei Monate danach wurde ich Witwe. Mein Mann machte eine Dienstreise und geriet unter einen Zug.
  2. Meine Mutter kam aus Moskau zu mir (nach Leningrad), in meine Gemeinschaftswohnung. Das Zimmer war lang und schmal wie ein Strumpf. Wir heizten den Ofen am Eingang, die Fenster waren aber vereist. Die warme Luft konnte in diesem langen „Strumpf“ nicht bis dahin gelangen.
  3. Mein Sohn war als Kind sehr kränklich. Das Schrecklichste war, er erkrankte mit neun Monaten an Meningitis. Meningitis ist leider unsere Familienkrankheit. An Meningitis starben Vater und Bruder meiner Mutter. Mein Bruder war auch meningitiskrank. Wie meine Mutter ihn rettete, weiß ich nicht. Das war aber 1920 in Witebsk, nein: 1919.
  4. Mein Sohn wurde mit neun Monaten krank. Meine Mutter hatte mir so oft über den Ausbruch der Krankheit erzählt, dass ich selbst die Diagnose stellte. Das sind hohes Fieber und Nackenstarre. Ich trug ihn so in den Armen ins Krankenhaus. Er wurde dort untersucht, es hieß, er hätte Lungenentzündung. Ich bat um eine Punktion und sagte, er habe Meningitis. „Sind Sie wahnsinnig, Mütterchen? Sind Sie sich bewusst, um was Sie da bitten?“
  5. Schließlich machten sie eine Punktion, die anderthalb Reagenzgläser voll Eiter ergab. Die Behandlung wurde sofort begonnen. Ich arbeitete damals noch im Palast der Pioniere und konnte über die Komsomol-Stadtzentrale Penicillin organisieren. Penicillin gab es damals eigentlich noch nicht. Mein Sohn überlebte als einziger von allen Kindern auf der Station.
  6. Die Anwesenheit meiner Mutter war sehr wichtig. 1949 wurde sie aber abgeholt. Für uns kam das völlig überraschend. Ihr wurde gesagt, sie hätte die Meldeordnung missachtet, sie dürfe in Leningrad nicht wohnen. Sie sagte, ihr Pass sei in Moskau ausgestellt worden. Sie nahmen ihr den Pass weg und setzten sie fest. Sie durfte dann nur im Umkreis von 100 Kilometern wohnen.