Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich schrieb die ganze Nacht einen Brief an den lieben Iossif Stalin. An ihn, keinen sonst, ich hatte ja noch zu wenig abgekriegt. Danach bemühte ich mich um die Sache in Leningrad. Es war so: Als ich mich noch um meinen Vater bemühte – meine Mutter war da auch schon verhaftet – versuchte ich einen Termin bei einer wichtigen Person in Moskau zu bekommen.
  2. Einen Passierschein zu Ulrich, dem Chef des Militärkollegiums des Obersten Gerichts, bekam ich nicht. Als ich versuchte, am Wachposten vorbei zu laufen, warf er mich die Treppe hinunter. Da kam mir ein Junge entgegen und half mir auf die Beine. Ich sah einen Passierschein in seiner Hand und fragte, wie er ihn bekommen habe.
  3. Er brachte mich nach draußen, als ob ich mich zurechtmachen müsse und flüsterte mir etwas zu. Das sollte mein Geheimnis werden, das alle Wege für mich öffnete. Er sagte: „Ich gehe zu ihm wie zu meinem Deputierten.“ Die ersten Wahlen fanden erst 1937 statt, niemand kannte sich damit schon aus. Ich ging nicht mehr zu Ulrich, sondern zum Generalstaatsanwalt wie zu meinem Deputierten.
  4. Als meine Mutter (wieder) verhaftet wurde, beschloss ich, zum NKWD-Chef in Leningrad zu gehen. Er war ja bestimmt ein Deputierter. Ich ging zum Stadtsowjet und informierte mich über seine Sprechstunden als Deputierter. Ich bekam einen Termin und brachte alle Unterlagen mit: wer, wann und wieso. Mit einem Federstrich erlaubte er meiner Mutter zurückzukehren. Es hat aber gedauert, bis ich zu ihm durch kam.
  5. Meine Mutter war noch in Malaja Wischera, wo ihre Fensterscheiben zerschlagen wurden. Da waren ja vorwiegend Kriminelle, Prostituierte und weiß der Teufel wer noch. Sie galten als sowjetische Bürger und sie war der Feind. Sie blieb relativ kurz da, einige Monate, es dauerte etwas, bis ich den Termin bekam…
  6. Dann kehrte meine Mutter zurück. Davor hatten mir meine Schüler geholfen, einer von ihnen nahm nicht am Unterricht teil, sondern passte auf meinen Sohn auf. Er durfte nicht allein bleiben, ich konnte ihn nicht im Kindergarten abgeben … Also: Meine Mutter kehrte zurück. Sechs Monate später zeigte mein Brief an Stalin seine Wirkung. Fünf Leute holten sie ab und sie wurde nach Schadrinsk im Vorural geschickt.
  7. Was sollte ich nun tun? Ich ging wieder zu diesem Rodionow wie zu einem Deputierten. Stalin erwähnte ich nicht, sagte aber, ich hätte früher einen Brief nach Moskau geschickt. Früher waren der Geheimdienst und die Polizei eine Behörde, nun waren sie wieder getrennt. Das Meldewesen war also nicht mehr in seiner Kompetenz.
  8. Er sagte: „Wissen Sie, jetzt ist es viel komplizierter. Stellen Sie einen Antrag auf Tilgung der Strafe Ihrer Mutter. Und ich werde warten, bis General Iwanow gute Laune hat, er leitet die Polizei. Rufen Sie mich jede Woche an, bitte keine Umstände.“
  9. Ich sagte: „Wie soll ich aber sagen, mit wem ich sprechen möchte?“ – „Ich heiße Dmitrij Gawrielowitsch.“ Ich deutete es so: Er war ein Schüler meines Vaters gewesen, sonst wäre es nicht möglich gewesen… Ich rief ihn (also) jede Woche an, fast ein Jahr lang.
  10. Ich habe noch etwas ausgelassen: Vorher war ich noch nach Moskau gefahren, um für meine Mutter um Begnadigung zu ersuchen. Keine Rehabilitierung, einfach Begnadigung. Ich nahm ihr Gesundheitszeugnis und das meines Sohnes mit, auch die Fürsprache für sie als Lehrerin usw. Ich ging zu Schwernik in die Sprechstunde.
  11. Er war Vorsitzender des Obersten Sowjets und folglich Vorsitzender der Kommission für Rehabilitierung. Seinerzeit hatte diesen Posten Kalinin inne, bei dem ich auch gewesen war. Es lief nun anders als bei Kalinin, man wollte mich (zu Schwernik) nicht durchlassen.
  12. Ich kam dann zum Sekretariatsleiter. Er legte meine Dokumente in die Schublade. Ich fragte: „Sie wollen sie ihm persönlich abgeben?“ Er sagte: „Nein, ich will, dass Sie sich nicht mehr in der Sprechstunde aufdrängen.“ Ich sagte: „Ich werde mich beschweren.“ – „Sie haben keine Zeugen“, sagte er.