Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mein Schulfreund war einmal bei mir zu Besuch, er kam aus Israel. Nach einem kurzen Gespräch sagte er mir: „Warum arbeitet ihr hier beinahe nur, um zu überleben? Heute fahren die Leute nach Deutschland.“ Mein Bruder war bereits nach Amerika ausgewandert, ca. zehn Jahre früher (als ich).
  2. Er glaubte nicht, dass die Perestroika in der Sowjetunion etwas bewirkt. Ich dagegen war Optimist. Ich sagte den anderen: „Schaut euch das an: Deutschland lag nach dem Krieg auch in Ruinen. Und nach so kurzer Zeit gehörte es wieder zu den führenden Staaten. Warum?
  3. Weil die Unternehmer dort frei sind, sie haben mit aufgebaut. Das Land hat sich aufgerichtet und gehört nun zu den führenden. Das gleiche muss auch bei uns passieren. Bei uns gibt es keine Kriegszerstörungen, wir haben alles. Wir müssen nur für Ordnung sorgen und alles privatisieren. Die Leute müssen frei sein, dann wird alles bei uns wie in Deutschland.“
  4. Weil das aber nicht passierte… Alles wandte sich zum Schlechten, zudem begann die Wiedergeburt des Antisemitismus und er trat sogar da auf, wo es ihn früher nicht gegeben hatte. Ich bekam die Nachrichten aus Sibirien. Ich habe erzählt, dass es (früher) so was nicht einmal annähernd dort gegeben hatte.
  5. Nun entstand die Gesellschaft „Pamjat“ auch dort… Wie es so heißt, die Schuld für alles wurde den Juden zugeschoben, wie immer. Es gab Drohungen. Auf einer Dienstreise besuchte ich Leningrad – so hieß es damals noch – und sah das auch da. Es entstand eine Menge chauvinistischer Zeitungen und Blätter, die dem ähnelten, was unter Hitler los war: „Die Juden sind unser Unglück.“
  6. Das Ganze brachte mich zu dem Schluss: Hier wird nichts draus. Das kam zusammen mit der wirtschaftlichen Lage, die immer schlimmer wurde. Unsere geringen Ersparnisse verschwanden. Nach meinem Freund aus Israel kam mein Bruder, er guckte sich unsere Lage auch an.
  7. Er half uns, von der Arbeit loszukommen. Er überließ uns etwas Geld, das bis zur Abreise reichen sollte. Meine Frau und ich trafen Vorbereitungen und reichten die Unterlagen ein. Es sind ca. zweieinhalb Jahre vergangen, bis wir die Erlaubnis erhielten. Fast zeitgleich wurde meine Frau schwer krank.
  8. Sie wurde operiert, der Befund war Krebs im vierten Stadium. Wir hatten geplant, im September 2002 fortzufahren, sie starb im Juni. Alle unsere Pläne, auch Deutsch vor der Abreise zu lernen und andere Sachen, das alles musste auf die Schnelle geregelt werden.
  9. Ich war in so einem Zustand, dass ich dachte: Das Leben ist vorbei, ich brauche nichts mehr. Nur mit sehr wenigen Sachen und beinahe mit einem abgelaufenen Visum – es galt noch wenige Wochen – fuhr ich fort.