Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Stadt wurde nun bombardiert. Eine Tante kam eilig zu uns… In dieser Stadt lebten zwei Schwestern meiner Mutter, Busja und Riwwa. Der Mann von Tante Riwwa diente in Kasatin in der Armee.
  2. Deswegen wollte sie nicht evakuiert werden und den Mann verlassen. Und Tante Busja kam zu uns. Ihr Mann war bei der Arbeitsarmee, aber nicht in Kasatin. Sie sagte: „Am Güterbahnhof steht ein Güterzug, um die Leute zu evakuieren. Macht euch fertig!“
  3. Papa sagte: „Wie? Und das Haus, die Arbeit, die Schlüssel zum Geschäft?“ Sie meinte: „Wie ihr wollt, ich fahre fort.“ Papa ging in die Verwaltung und wollte die Schlüssel abgeben. Der damalige Direktor war Babitschuk. Er sagte: „Nein, ich lasse Sie nicht gehen. Wer bleibt im Geschäft?“
  4. Papa sagte: „Ljussja, die mit mir arbeitet.“ – „Nein, nein!“ Papa warf die Schlüssel hin und ging. Hätte er das nicht getan, wären wir alle dort umgekommen. Am selben Tag stiegen wir in den Güterwagen.
  5. Was nahmen wir mit? Säcke, die Papa aus dem Geschäft mitgebracht hatte. Wir packten sie voll. Koffer hatten wir nicht, wir waren nie verreist. Wir warfen die nötigsten Sachen in die Säcke und stiegen in den Güterwagen. Wir konnten nicht einmal Essen mitnehmen.
  6. Papa verließ das Lebensmittelgeschäft und wir hatten kein Brot für unterwegs. Beim Halt stieg Papa aus. Da fuhren auch die Züge zur Front. Papa ging dahin und bat um Essen. Wir mussten richtig hungern, denn wir waren einige Monate unterwegs.
  7. Wir mussten immer wieder umsteigen. Dabei ging der Sack mit Papieren verloren. Eines Tages trafen wir den Mann von Ljussja, Papas Mitarbeiterin. Er fuhr an die Front und erkannte den Vater wieder. Er gab ihm Speck, Brot und Zucker.
  8. Papa verteilte es nicht nur an unsere Familie – wir waren zu sechst –, sondern auch an die Familie der Tante. Sie waren zu viert. Das Essen reichte nur für zwei oder drei Tage. Also, die ganze Zeit unterwegs hungerten wir.
  9. Wir hatten zwar Geld, an den Bahnhöfen gab es aber nichts zu kaufen. Das war einfach ein Albtraum. Und die Züge wurden bombardiert.
  10. Wir waren allerdings davon nicht betroffen und kamen im Ural an. Es war die Stadt Plast im Gebiet Tscheljabinsk. Da war es bis zu minus 40 Grad kalt.