Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Am 10.6.1944 starb meine Mutter in Samarkand, auch an Tbc. Es gab ja kein gutes Essen.
  2. Meine Mama hatte viele goldene Zahnkronen. Sie nahm sie nach und nach heraus und wir verkauften sie, um Lebensmittel zu kaufen. Sie nahm die letzte Krone heraus und gab sie der älteren Schwester, um Brot zu kaufen.
  3. Mein Papa wohnte in der Zeit bei seinen älteren Töchtern in derselben Straße. Ich wollte mit der Schwester mitgehen und Mama erlaubte es. Sie war krank und bettlägerig. Ich weiß nicht, vielleicht spürte sie, dass sie bald sterben wird. Sie sagte aber, ich soll mit der Schwester mitgehen.
  4. Wir gingen los und die Schwester verkaufte die Zahnkrone für sieben Rubel. Für das Geld kaufte sie ein Brot und einen großen Weizenfladen. In Usbekistan schmecken Fladenbrote sehr gut. Und zum ersten Mal aßen wir so einen Fladen.
  5. Dann passierte Folgendes: Sie brach den Fladen entzwei, und gab mir die Hälfte. Ich begann ihn zu essen. Plötzlich entriss mir ein Kerl den Fladen. Er war vielleicht um die 15 und mager wie ein Skelett. Er lief mit dem Fladen weg.
  6. Ich lief ihm nach und schlug ihm mit der Faust auf den Rücken. Er fiel um und verschluckte trotzdem den Fladen. Ich habe so geweint, Sie können sich das nicht vorstellen. Meine Schwester hatte noch ein Stückchen, sie gab es mir und ich aß es auf. Ja, so eine Geschichte mit dem Fladen.
  7. Danach begriff ich: Ich muss aufpassen, wenn ich draußen esse. Dann gingen wir nach Hause. Ich hatte damals die Angewohnheit, stets vorzulaufen. Vor der Wohnung in der Altstadt war ein Türchen im Zaun, meine Schwester blieb weit zurück.
  8. Ich öffnete die Tür und kam ins Zimmer – meine Mama lag gekrümmt auf dem Boden. Sie war tot. Ich rannte nach draußen und lief zu Papa, er nähte da etwas.
  9. In Zentralasien wurden täglich auf dem Friedhof Hunderte begraben oder vielleicht Tausende. Das Grab meiner Schwester hatte wohl die Nummer 744. Wir wollten Mama in derselben Reihe begraben. Die Gräber waren dort nur 75 cm tief.
  10. Man wurde ohne Sarg begraben, in einfache Bettlaken eingewickelt. Und man stellte eine Sperrholztafel auf. In der Nähe des Friedhofs lebten Schakale. Nachts buddelten sie die Gräber aus und fraßen die Leichen.
  11. Wir waren dann lange nicht auf dem Friedhof. Mama starb am 10. Juni (1944). Als wir vor der Abreise dahin kamen um Abschied zu nehmen, fanden wir keine Tafel mehr vor.
  12. Wir wussten nicht einmal, von welchem Grab wir Abschied genommen hatten. Bei der Schwester und auch bei der Mutter stand keine Tafel mehr, alles war umgestürzt.
  13. Die Schakale zogen die Leichen heraus und fraßen sie. Dort wurden auch keine Papiere ausgestellt, die Leichen wurden einfach so begraben.
  14. Ich behielt die alten Pässe meiner Mama und Schwester.