Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich verlor zwei Schuljahre und musste sie nachholen, in die achte Klasse gehen. Als ich in die Schule kam, um meine Papiere abzugeben, kam die Tochter des Schuleiters zu mir, Faina Gondrobataja. Sie sagte: „Wozu die achte Klasse? Komm in unsere neunte!“
  2. Ich sage: „Aber wie? Ich habe ja die Papiere für die siebte Klasse.“ – „Du brauchst keine Papiere. Setz dich in der Klasse hin und melde dich für die Aufnahme an. So wirst du Neuntklässlerin.“ Ich tat es dann so.
  3. 1949 beendete ich die zehnte Klasse. Das war’s über die Schule. Ich wollte eine Hochschulbildung erlangen. Papa sagte: „Studiere, was du kannst. Die Grundlage hast du schon. Ich kann dich nicht voll unterstützen, aber ich tue, was ich kann.“
  4. Ich beschloss, auf das Polytechnische Institut in Kiew zu gehen. Mir gefiel diese Fakultät für Automatik oder so. Damals gab es bereits für Juden Quoten. 1949 kam der Kosmopoliten-Prozess, die Juden wurden des Kosmopolitismus beschuldigt.
  5. Und dann noch die „Ärzteverschwörung“ usw. Stalin dachte sich aus, was er nur wollte. Die erste Aufnahmeprüfung am Polytechnischen Institut war in Mathe. Es war eine Geometrie- und Trigometrieaufgabe, und Algebraaufgaben.
  6. Ich löste sie alle. Am nächsten Tag kam ich zu einer weiteren Prüfung und sah auf der Info-Tafel: Alle Juden durchgefallen, alle mit jüdischem Nachnamen. Mein Name ist aber nicht jüdisch, d.h. sie wussten es trotzdem: „Kislyuk – eine Fünf in Mathe, durchgefallen.“
  7. Ich gehörte nicht zu den Gehorsamen. Ich ging in die Kanzlei und sagte: „Ich weiß, dass ich alles richtig gelöst habe. Zeigen Sie mir meine Arbeit.“ Ich war damals 18. Sie sagten: „Wir zeigen die Unterlagen nicht. Eine Fünf ist eine Fünf.“
  8. Ich wusste, warum ich sie bekam. Ohne lange zu überlegen, holte ich meine Dokumente ab und ging ans Institut für Silikate, ein Fernstudium. Ich bestand alle Aufnahmeprüfungen und wurde am Institut aufgenommen.
  9. Es war 1949. Ich kehrte dann nach Hause zurück mit den Lehrbüchern aus dem Institut. Ich ging als Oberpionierleiterin in einer Schule arbeiten.
  10. Ich überlegte mir dann: „Wenn ich Pionierleiterin bin, wozu dann das Institut für Silikate? Ich muss an die Pädagogische Hochschule.“ Ich schickte alles zurück und erhielt mein Zeugnis.
  11. Ich wurde dann an der Pädagogischen Fachschule in Berditschew aufgenommen, das war in der Nähe, und zwar an der Fakultät für Russisch und Literatur, nicht für Mathe.
  12. Da studierten viele meiner Mitschüler.