Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Und plötzlich im Juli… Das war am 28.7., die Leute gingen in Kolonnen aus dem Ghetto zur Arbeit. Sie gingen um etwa sechs Uhr.
  2. Uns wurde gesagt, die Juden müssen sich auf dem Jubilejnaja-Platz versammeln im Minsker Zentrum. Alle mussten dahin, da würde man neue Erkennungszeichen bekommen. Einige liefen durch die Straßen und riefen: „Leute, versammelt euch!“
  3. Und die Leute sahen schon, dass das Ghetto von LKW-Kolonnen mit deutschen Soldaten umstellt wurde. Ich weiß nicht, welche Uniform sie trugen. Also man sah, dass das Ghetto umstellt wurde. Im Ghetto war es so: Jede Familie suchte sich ein Versteck.
  4. Auf Englisch heißt es „hiding place“ und wir nannten das „malina“ (Himbeere), das ist aus der Gaunersprache. Das ist ein Ort, wo Kriminelle sich versammelten. Also ein Versteck, eine Zuflucht, dafür gibt es viele Begriffe. Da versuchte jeder, was ihm gerade einfiel.
  5. Es gab doppelte Wände, in den Kellern wurden Gänge in die Erde gegraben. Es gab auch doppelte Dachböden. In jedem Haus hatten einige Familien ihr Versteck und verheimlichten es vor den anderen.
  6. In ein Versteck passten nicht mehr als zehn oder zwölf Leute, denn es war gefährlich. Und es war gefährlich, Kinder in diese Verstecke mitzunehmen, und besonders kleine Kinder. Denn sie hätten durch Geschrei die Aufmerksamkeit auf sich lenken können.
  7. Was habe ich noch in Erinnerung? Wir wohnten in einem Holzhaus in der Nähe des Ghettozentrums, in der Nowotechnitscheskij-Gasse. Später erfuhr ich mehr darüber, kannte den Gassennamen aber schon damals. In einem Zimmer wurde ein Raum abgeriegelt, schmal wie ein Wagenabteil.
  8. Er war aber länger, wohl 6 Meter lang. Es gab eine Wand und ich kann mich noch an ein kleines Fenster erinnern. Sie können sich das wohl kaum vorstellen. Da war ein alter kleiner Geschirrschrank, wie hier an der Wand. Der Eingang war ein Loch auf dieser Seite.
  9. Und man schob alles im Schrank innen zur Seite, der Schrank selbst war da festgenagelt. Das Geschirr wurde zur Seite geschoben und die Leute krochen da rein. Dann wurde das Geschirr zurückgestellt, und die Leute saßen da im Versteck.
  10. Am 28.7. krochen wir in den kleinen Raum hinein. Da versammelten wir uns, ca.… Mama hat es mir gesagt, ich wusste es selbst nicht. Ich weiß nur, wir mussten da sehr eng sitzen, es waren bis zu 20 Leute.
  11. Was behielt ich besonders in Erinnerung? Das Sitzen da blieb dadurch in Erinnerung: Erstens Angst. Wir wussten, das ist der Tod, wir spürten es. Zweitens: Die Wände waren dünn, durch das kleine Fenster hörten wir Schüsse und Geschrei. Wir Kinder konnten schon damals die Sprachen unterscheiden, Deutsch und Russisch.
  12. Und das Geschrei, der Lärm usw. Der 28.7., es war sehr heiß. Die Leute in den Verstecken waren nicht auf eine längere Zeit vorbereitet. Sie wussten: Die Razzia hört auf, die Leute kommen von der Arbeit und sagen den Überlebenden: „Vorbei, es ist ruhig.“
  13. Sie hatten keine Essens- und Wasservorräte. Jetzt weiß man, dass man leichtsinnig war, man hatte eben auch keine Möglichkeit dazu. Diese Ereignisse kamen immer überraschend, es wurde nie angekündigt: „Morgen gibt es ein Pogrom.“
  14. Also unter diesen Umständen, neben der Todesangst… Es hat sich herausstellt: Es gibt kein Wasser, der Durst. Und der Tag war lang, es war Juli. Dann begann die Nacht, wir hörten wieder Schüsse, Schritte und Geschrei.
  15. Es beginnt der nächste Tag, die Kinder… Da waren ich, Jascha und wohl noch jemand. Die Kinder hatten Durst. Die Frauen gaben uns etwas in einem Glas oder so zu trinken. Es war trüb, warm und stank. Wir tranken es trotzdem. Später habe ich erfahren, es war Urin.
  16. Ich wusste es nicht, ich war Kind. Das dauerte vier Tage und drei Nächte. Danach wurde es still, und es kamen die Leute von der Arbeit. Die Deutschen hielten die Arbeitskolonnen in den Betrieben.
  17. Und dann gab es Geschrei: Man kam nach Hause und sah seine Frau und Kinder nicht wieder. Das war schrecklich. Aber die kamen immerhin: „Leute, kommt heraus! Alles vorbei.“
  18. Sie sprachen auf Jiddisch. Wir krochen heraus. Welche Erinnerungen habe ich an diesen Tag? Die meisten wurden damals mit LKWs nach Trostenez abtransportiert.
  19. Und die Leute, die die Deutschen in den Verstecken im Ghetto erwischten oder die, die zu fliehen versuchten, wurden gleich im Ghetto erschossen. Und die Ordnungspolizei, da waren einige noch am Leben, sammelte die Leichen und stapelte sie.
  20. Danach wurden sie in die Gruben auf den Friedhof gebracht. Das habe ich in Erinnerung, wie sie da lagen. Und die Hauptsache: Die Tankowaja-Straße ist abschüssig. Damals war sie nicht asphaltiert, sondern mit Steinen gepflastert.
  21. Und es kam ein Sommerregen, mit großen Tropfen, der Regen nach der Hitze. Das brachte allen Erleichterung. Und da… Ich habe dann erfahren, auf Deutsch heißt es Platzregen. Der platzt und schäumt wirklich.
  22. Und auf der Straße gab es viele Blutspuren, und das Wasser strömte herunter, vom Blut gefärbt. Nun, genug davon…
  23. Und Mama erzählte mir, ich hätte damals die ersten grauen Haare bekommen. Das sind schon meine eigenen Erinnerungen.