Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Halina Molotkova

Halina Molotkova wurde am 2. Oktober 1936 in Smolensk unter dem Namen Berta Gildenberg geboren. Der Vater Moissej (1903–1942) war Komsomolaktivist und wurde nach einer schweren Verwundung Vorsitzender einer Invalidengenossenschaft. Die Mutter Sofja Pribytkina (1900–1954) arbeitete als Schreibkraft in der Redaktion einer Armeezeitung. Halina wuchs als Kind der Sowjetgesellschaft, ohne Bezug zur jüdischen Religion auf. Ihre Schwester Maja kam 1931, ihr Bruder Boris 1941 zur Welt, wenige Wochen vor dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion.
Während der ersten Bombenangriffe auf Smolensk entgingen die Gildenbergs nur knapp dem Tod und verloren ihr gesamtes Hab und Gut. Moissej ließ Frau und Kinder ins Umland der Stadt bringen; er selbst wurde mit der Genossenschaft evakuiert. Sein Plan, die Familie nach wenigen Tagen abzuholen, scheiterte. Halinas Vater kehrte aus dem Krieg nicht mehr zurück.
Da ein Aufenthalt in Smolensk unmöglich geworden war, entschied Sofja Gildenberg, mit ihren Kindern nach Weißrussland zu flüchten, in das Dorf der Schwiegereltern. Dort erfuhr sie jedoch, dass die Verwandten von den Deutschen ermordet worden waren. Ein Dorfbewohner verbrannte alle Papiere der Flüchtenden mit dem Namen Gildenberg, und Sofja gab ihren Kindern andere Vornamen. Die Familie ging wieder zurück Richtung Smolensk – mitten durch besetztes Gebiet, stets bedroht von Festnahme und Denunziation.
Weil Halina schwer erkrankte, machten die Flüchtenden im Dorf Sutoki (westlich von Smolensk) Halt. Dort erhielten sie Hilfe, Unterkunft und neue Papiere. Sie wurden jedoch auch denunziert und beschuldigt, die Partisanen unterstützt zu haben. Nur knapp entgingen sie der Erschießung. Angesichts der permanenten Todesgefahr versuchte Halinas Mutter schließlich, sich und den Kindern das Leben zu nehmen, schreckte aber letztlich vor diesem Schritt zurück.
Eine wichtige Helferin beim Überleben war die Dorfbewohnerin Jewdokija Kabeschewa (1917–2008) – „Tante Dunja“. Sie nahm Mutter und Kinder bei sich auf, gab sie als Verwandte aus und rettete die Familie auch, als sie gegen Ende der Besatzungszeit auf der Flucht vor einem Erschießungskommando in einem nahen Sumpfgebiet unterzugehen drohte. 1998 wurde „Tante Dunja“ auf Anregung von Halina und ihrer Schwester in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Nach der Befreiung kehrte Halina mit ihrer Familie in das zerstörte Smolensk zurück. Bald entdeckte sie ihre Liebe zur Dichtung. In der Schule und auf dem Technikum widmete sie sich der Laienkunst und trat als Rezitatorin auf. Da ihr ein Schauspielstudium verwehrt wurde, ging sie ans Moskauer Plechanow-Institut und arbeitete als Ökonomin im Bankengeschäft. Parallel zum Beruf widmete sie sich jedoch weiter der Literatur und Vortragskunst. Sie lernte von dem Schauspieler Iwan Rudow und wurde unterstützt von der renommierten Schauspielerin Walentina Popowa, mit der sie eine lange Freundschaft verband.
1986 zog Halina Molotkova von Smolensk ins ukrainische Cherson, wo sie ihren zweiten Mann, Alexander Groysman, heiratete. Nach Erreichen des Ruhestandes gründete sie dort 1993 das Laien-Theater „Golos“ („Die Stimme“). Als sich ihr Mann 2001 für die Auswanderung entschied, konnte sich Halina Molotokova ein Leben in Deutschland nur schwer vorstellen. Kontakte zu anderen Einwanderern, der Austausch über die russische Kultur und die Laienkunst halfen ihr jedoch beim Einleben. Das Theater „Golos“ hat sie 2004 in Essen wiedereröffnet, wobei sie auch Unterstützung der evangelischen Gemeinde bekam. Sie veranstaltet regelmäßig Konzerte und Lesungen, arbeitet eng mit früheren Weggefährtinnen zusammen und lädt russische Künstler nach Deutschland ein.
Die eigenen Erfahrungen spielen im Schaffen Halina Molotkovas eine wichtige Rolle. Sie setzt sich mit dem Thema Krieg auseinander, tritt in Jüdischen Gemeinden auf oder nimmt an Gedenkveranstaltungen zur Schoa teil. Und: Weil sie überlebt hat, von anderen Menschen Hilfe erhalten habe, verspüre sie die Verpflichtung, etwas zurückzugeben.