Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Mariya Kislyuk

Mariya Elevna Kislyuk wurde am 2. Februar 1931 geboren. Ihr Vater Elja Kislyuk (1883–1965) war vor der Revolutionszeit mit der Tochter einer Gutsbesitzerin verheiratet und lebte in dem Örtchen Chodorkow im Gouvernement Kiew. Die Familie hatte drei Kinder, zwei Mädchen und einen Jungen, der im Zweiten Weltkrieg fiel. Während des Bürgerkrieges wurde die erste Frau des Vaters bei einem Pogrom von Mitgliedern der Petljura-Armee ermordet. Der Vater verließ daraufhin den Ort und zog nach Kasatin im Gebiet Winniza. Dort heiratete er Golda Kislyuk (geb. Melamed) (1887–1944) und bekam mit ihr vier weitere Kinder: Bronja (geb. 1922), Polina (geb. 1924), Shimon (geb. 1926) und Mariya. Der Vater, der in Chodorkow als Gerichtsschreiber gearbeitet hatte, war in Kasatin als Revisor tätig, später leitete er ein Lebensmittelgeschäft. Um 1930 verlor die Familie ihre Ersparnisse durch eine Denunziation beim GPU (Staatliche Politische Verwaltung, Bezeichnung des Geheimdiensts 1922–1934).
Mariya hatte gerade die dritte Klasse abgeschlossen, als der Krieg begann. Auf der Flucht vor dem drohenden deutschen Einmarsch gelangte die Familie in die Kleinstadt Plast im Ural (Gebiet Tscheljabinsk). Dort erkrankten Mariya, ihre Mutter, die Schwester Polina und der Bruder an Tbc. Um der Kälte zu entgehen, beschloss die Familie, nach Samarkand zu ziehen, wo die Töchter aus erster Ehe des Vaters lebten, doch auch dort war das Klima unverträglich. Am 22. November 1942 starb die Schwester Polina – am Tag der Beerdigung wäre sie 18 Jahre alt geworden. Am 10. Juni 1944 starb auch die Mutter an Tbc.
Tante und Onkel, die 1941 in Kasatin geblieben waren, wurden von den Deutschen im Ghetto inhaftiert und ermordet. Einem Cousin aus Odessa, der im Sommer 1941 gerade zu Besuch gewesen war, gelang die Flucht aus dem Ghetto. Er konnte sich bis zur Befreiung in verschiedenen Dörfern verstecken.
Mariya kehrte 1944 mit dem Vater und den Geschwistern nach Kasatin zurück. Da die Wohnverhältnisse sehr schlecht waren, nahm ein Cousin Mariya zu seinen Eltern nach Moskau mit, wo sie das Jahr 1946 verbrachte und Stalin auf dem Roten Platz sah. Sie kehrte nach Kasatin zurück, da sie in Moskau die Schule nicht besuchen konnte, erkrankte an einer gefährlichen Infektion und versäumte ein weiteres Schuljahr.
1949 beendete Mariya Kislyuk die 10. Klasse. Sie machte die Aufnahmeprüfung für das Polytechnische Institut in Kiew, fiel aber aufgrund der existierenden Quotenregelung für Juden durch. Sie wurde dann an der Pädagogischen Fachschule in Berditschew aufgenommen und studierte später auch an der Pädagogischen Hochschule in Winniza; ihr Fach war Russische Sprache und Literatur. Mit großem Engagement arbeitete sie als Pädagogin in Kasatin und später in Odessa. 1963 heiratete sie Jewgenij Frejdlin (1934–1986), die beiden bekamen die Tochter Galina. Auch Galina war während ihrer Ausbildung Diskriminierungen ausgesetzt.
1995 entschied sich die Familie zur Ausreise nach Deutschland. Nach einer schwierigen Anfangsphase – sie sprach kein Deutsch und aufgrund ihres Alters wurde ihr kein Sprachkurs angeboten – hat sich Frau Kislyuk in Düsseldorf gut eingelebt. Sie organisiert jeden Monat ein Kulturprogramm in der Jüdischen Gemeinde und hat mit der Hilfe ihrer Tochter zwei Filme über die Maler Isaak Lewitan und Felix Nussbaum realisiert und einen weiteren über „Die Gerechten unter den Völkern” in Planung. Vor Kurzem hat sie die Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen abgeschlossen.