Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wie damals in gebildeten jüdischen Familien üblich, besuchte ich zunächst eine deutsche Schule. Ich muss noch sagen, dass es eine interessante Tradition in Lettland gab. Das war die gesetzlich anerkannte sogenannte „national-kulturelle Autonomie“. Das heißt: Jede Nation – Letten, Deutsche, Russen und Juden – hatte ihre eigenen Schulen, Theater, Zeitungen und Vereine. Das war gesetzlich vom Staat so vorgeschrieben.
  2. Deswegen gab es auch jüdische Schulen, da wurde auf Jiddisch unterrichtet und auch auf Hebräisch, das gab es schon bei uns. Und weiterführend wurde in den jüdischen Schulen auf Lettisch unterrichtet. Ich besuchte jedoch die deutsche Schule zunächst, ich ging sechs Jahre auf die 8. deutsche Stadtgrundschule. In meiner Klasse gab es ziemlich viele Juden, wir waren so um die zehn.
  3. Ich muss sagen, ich spürte nie, dass ich Jüdin oder irgendwie anders bin. Das Verhältnis zu uns war großartig – vom Schuldirektor bis zum einfachen Lehrer. Besonders gut war der Geschichtslehrer zu mir. Der Grund war wohl meine damalige Begeisterung für Geschichte. Er sah und spürte das. Er nannte mich stets „Zuckerchen“, nicht anders als „Zuckerchen“.
  4. Und ich fand ihn natürlich auch sehr sympathisch. Ich habe diese Schule abgeschlossen, das war bereits 1934. Sie wissen, was in Deutschland damals schon im Gange war, die Lage war wenig angenehm. In Lettland selbst merkten wir nichts davon, obwohl es auch zu einem Staatsstreich kam. Karlis Ulmanis löste das Parlament auf und kam an die Macht.
  5. Das war eine Diktatur, die aber nichts Gemeinsames hatte mit der deutschen oder italienischen. Die Bedingungen waren durchaus anständig. Na gut, er ließ die Kommunisten einsperren und entmachtete die Sozialdemokraten. Jedenfalls bemerkten wir nichts davon. Ich wollte aber nicht mehr auf die deutsche Schule, erstens. Und zweitens war es auch nicht mehr erlaubt. Das Gesetz bestimmte nun: Entweder gehe ich auf eine nationale Schule oder auf eine lettische.
  6. Meine Eltern wollten zunächst, dass ich auf die lettische Schule gehe, die sozialdemokratisch war. Sie wurde aber nach dem Staatsstreich geschlossen. Also ging ich auf eine jüdische Schule, das war das Privatgymnasium Esra. Die erste Zeit war da auf Deutsch unterrichtet worden. Das neue Gesetz verbot es dann, also ging man zu Lettisch über.
  7. Also fünf Jahre Gymnasium, Unterricht auf Lettisch in allen Fächern. Wir hatten einen großartigen Lehrer für die lettische Sprache und Literatur. Der Englischunterricht war gut, der Lateinlehrer war großartig. Mit den jüdischen Fächern sah es schlechter aus, die Lehrer waren keine Fachkräfte.
  8. Das waren meistens Emigranten aus Deutschland, die arbeiten mussten; Sie wissen, wie das geht. Hebräisch wurde freilich von einem hiesigen Lehrer unterrichtet. Ich würde aber nicht sagen, dass es (gut) war. Jedenfalls weiß ich heute nur noch einzelne Worte, obwohl ich das fünf Jahre gelernt hatte.