Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Viktoria Dymovskaia

Viktoria Dymovskaia kam am 23. Oktober 1936 in Leningrad zur Welt. Ihr Vater Pawel stammte von dort, die Mutter kam aus Weißrussland und war nach dem Verlust der Eltern in den Norden gezogen. Während sie eine Aufgabe im sowjetischen Erziehungssystem fand und später Direktorin des Hauses der Pioniere in Leningrad wurde, war er zunächst Redakteur einer Betriebszeitung.
Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion wurde Pawel Dymovski zum Militär eingezogen. Zunächst tat er nahe Leningrads Dienst; 1944 fiel er beim Fronteinsatz. Seine Ehefrau und seine Tochter litten wie Millionen anderer Einwohner unter der ab September 1941 geltenden, fast 900 Tage dauernden Blockade durch die deutsche Wehrmacht. Der quälende Hunger, der vor allem im ersten Blockadewinter hunderttausenden Menschen das Leben kostete, ist Viktoria ebenso in Erinnerung wie die lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter.
Nach der Befreiung Leningrads 1944 kam Viktoria Dymovskaia in die Schule. Sie besuchte ein Technikum für Buchhandel, studierte von 1955 bis 1960 am „Institut für sowjetischen Handel“ und war danach in einem Leningrader Kaufhaus und der Möbelabteilung eines großen Handelsbetriebes tätig. Bei der Arbeitssuche half ihr – wie sie sich erinnert –, dass sie „russischer Nationalität“ und ihre jüdische Herkunft aus den Papieren nicht erkennbar war.
1956 heiratete Viktoria Dymovskaia den Werkzeugmacher und späteren Ingenieur Naum Meltser, mit dem sie zwei Töchter bekam. Naums Mutter kam noch aus einem traditionell geprägten jüdischen Umfeld und sprach lange Zeit nur Jiddisch. Dies änderte sich jedoch in den 1920er-Jahren, in denen Naums Eltern aus Weißrussland nach Leningrad zogen. Wie Viktoria musste auch Naum die Blockade erleben. 1942 starb sein älterer Bruder Israel mit 17 Jahren an Unterernährung. Naum selbst und seine Mutter überlebten, da sie über den östlich von Leningrad liegenden Ladogasee evakuiert wurden. Auch der Vater, der zur Roten Armee einberufen war, konnte zurückkehren, starb jedoch in den 1960er-Jahren an den Folgen der erlittenen Verwundungen.
Seit Ende der 1980er-Jahre reifte bei dem Ehepaar der Wunsch zu emigrieren. Die Warenknappheit, die Aussicht auf Reisefreiheit, das Stocken politischer Reformen, die Furcht vor Antisemitismus und positive Erfahrungen von Verwandten und Bekannten ließen bei ihnen den Entschluss zur Auswanderung entstehen. 1991 gingen die beiden Töchter Margarita und Elena nach Israel; 1995 wanderten Viktoria Dymovskaia und Naum Meltser nach Deutschland aus. Sie zogen nach Dortmund, wo bereits Freunde lebten. Dort wohnt inzwischen auch Margarita mit ihrem deutschen Ehemann.
Die in der Sowjetunion unterdrückte jüdische Religion spielt im Leben des Ehepaars auch jetzt keine bedeutende Rolle. Die Gemeinde hat jedoch – neben Einrichtungen wie der Caritas – bei der Integration geholfen. Weil sie die Kenntnis des Deutschen für das Einleben wichtig findet, besucht Frau Dymovskaia weiterhin Sprach- und Konversationskurse. In den zurückliegenden Jahren hat sie auch deutsche Freunde gefunden.
Angesichts seiner jetzigen Lebenssituation empfindet das Ehepaar „keine Nostalgie“. Das frühere Leningrad und heutige St. Petersburg bleibt ein wichtiger Bezugspunkt, auch, weil dort noch Verwandte leben. Die Stadt – so Frau Dymovskaia – sei in den letzten Jahren aber zunehmend fremd geworden.