Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Leonid Kazanovich

Leonid Kazanovich wurde am 20. Juli 1931 im ukrainischen Charkow geboren. Seine Mutter Jelisaweta Kazanovich (1901–2005), Tochter eines Müllers aus dem Tschernigower Gebiet, wählte den Beruf der Ärztin und kam während des Medizinstudiums in den 1920er-Jahren nach Charkow. Dort traf sie Leonids Vater Boris (1897–1956). Er war Sohn eines Ladenbesitzers aus Lochwizy im Gebiet Poltawa und wurde nach einem Studium am Charkower Technologischen Institut Ingenieur.
In der Generation der Großeltern spielten jüdischer Glaube und jiddische Sprache noch eine gewisse Rolle. Leonids Eltern waren jedoch nicht religiös. Vor dem Hintergrund der Sowjetgesellschaft hatten sie ihre jüdischen Vornamen abgelegt und durch russische ersetzt.
Während des Zweiten Weltkrieges konnten die Kazanovichs mit Glück den deutschen Bombardements entkommen. Leonids Vater, der in einem Institut für feuerfeste Stoffe arbeitete, musste nicht zur Armee, aber als Spezialist zunächst in Charkow bleiben. Dagegen wurden Jelisaweta, Leonid, seine Schwester Maja, eine Tante und Großmutter rasch nach Swerdlowsk (Jekaterinenburg) evakuiert. Ein Onkel und die Großeltern väterlicherseits konnten knapp der Gefangennahme durch die Deutschen entgehen; Leonids Großvater starb jedoch während der Flucht.
1944 kehrte die Familie aus der Evakuierung nach Charkow zurück. Ab 1949 studierte Leonid am dortigen Polytechnischen Institut, wo er erstmals persönlich mit Antisemitismus konfrontiert war. 1954 schloss er das Studium der Turbinentechnik ab. Nach zweijähriger Tätigkeit in Nikolajew erhielt er 1956 eine Stelle in einem Turbinenwerk in Charkow. Dort lernte er die 1927 geborene Nelli (Nellja) Notik kennen, die er 1959 heiratete.
Nelli Notiks Eltern waren überzeugte Kommunisten; die Mutter hatte als Rotarmistin in der Revolution gekämpft, der Vater als Parteifunktionär in Kiew gewirkt. 1937 wurde er jedoch wegen eines angeblichen Komplotts gegen Stalin als „Volksfeind“ verhaftet, verschleppt und wenig später erschossen, Nellis Mutter Jekaterina aus der Partei ausgeschlossen und mit Deportation bedroht. Sie verließ die Stadt und ging mit ihren beiden Kindern nach Charkow. 1941 kamen sie per Evakuierung ebenfalls nach Swerdlowsk. Dort begann die 14-jährige Nelli in einer Turbinenfabrik zu arbeiten. Nach der Befreiung kehrte sie mit dem Werk nach Charkow zurück und machte dort schließlich als Ingenieurin Karriere.
Leonid Kazanovich wechselte 1961 an das Forschungs- und Entwicklungsinstitut „Giprostal“ in Charkow, wo er eine wissenschaftliche Karriere und eine Promotion ins Auge fasste. Da ihm dies aufgrund seiner Herkunft in der Ukraine nicht möglich war, erarbeitete er seine Dissertation im russischen Gorkij (Nischnij Nowgorod), wo er 1969 promoviert wurde. 1974 erhielt Herr Kazanovich mit Unterstützung von Freunden eine verantwortungsvolle Position in einem Trust für mobile Kraftwerke. Ende der 1970er-Jahre zog er mit seiner Frau nach Saporoshje, wo sich eine Niederlassung des Trusts befand. Erst mit der Rente 1992 kehrte das Ehepaar wieder nach Charkow zurück.
Bereits 1990 wanderte der Sohn Wladimir nach Israel aus, Leonids Schwester, ihre Kinder und die Mutter folgten wenige Jahre später; Freunde gingen nach Deutschland und die USA. Weil sich der Plan, in Amerika unterzukommen, zerschlug, ging Herr Kazanovich mit seiner Frau 1996 nach Deutschland. Ihr Wunsch, dass ihre Tochter nachkomme, ging jedoch nicht in Erfüllung, auch wegen der ungewissen Aussichten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Irina blieb in Charkow, wo sie 2008 völlig unerwartet verstarb.
Nachdem bereits Bekannte dort wohnten, wählten Leonid Kazanovich und Nelli Notik Dortmund als Wohnort. Am Gemeindeleben haben sie – soweit es gesundheitlich möglich war – teilgenommen. Besonders wichtig war dabei die Laienkunst, der sich Leonid Kazanovich seit seiner Schulzeit widmet. Er ist seit etlichen Jahren im Chor der Synagogengemeinde und hat zusammen mit seiner Frau zahlreiche Auftritte absolviert.