Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wir wurden aber nach Ksyl-Orda in Kasachstan geschickt. Meine Großeltern, meine Mutter und ich fuhren dahin. Meine Mutter ging dann aber zurück nach Krasnowodsk, wo Ionkis war. Er war Chef der Chiffrierabteilung beim Seefahrtsministerium. Das Schwarze Meer war okkupiert, die Flotte war im Kaspischen Meer.
  2. Und ich war zusammen mit meinen Großeltern in Ksyl-Orda. Später kam zu uns die Tante Olga aus dem belagerten Leningrad. Sie war verletzt, hat aber überlebt. Sie kam über Tschapaewsk zu uns und war in der Zeit schwanger. Sie war kaum da, da erkrankte die Großmutter an Typhus und starb daran.
  3. Wir wohnten dort in einer Baracke, unser Zimmer war kaum 6 Quadratmeter groß. Drin stand das Bett der Großeltern. Und hier hat der Großvater so eine Liege gezimmert, wo ich und die Tante Olga schliefen. Und es gab noch einen Tisch, sonst nichts. Der Raum war klein. Aber durch das Fenster waren kleine Schuppen zu sehen, in einem hielten wir ein Schwein namens Wasska.
  4. Der Großvater arbeitete als guter Handwerker in einer Behörde und er brachte Essensreste mit, die Wasska zu fressen bekam. Also, unsere jüdische Familie hielt nach der Evakuierung ein Schwein. Wie man sagt: wie der Mann, so der Hut, wenn es nicht anders geht, dann züchten wir ein Schwein.
  5. In Kysyl-Orda gab es Leprastationen, die Leprakranken gingen auch zum Markt. Ich wollte immer zusammen mit der Großmutter zum Markt, sie nahm mich aber nicht mit. Sie wollte mich schützen, ist aber selbst krank geworden. Als ihre Verwandten zu uns kamen, ließ sie sie nicht ins Zimmer hinein, bevor sie nicht in der Desinfektionsanstalt gewesen waren, denn alle waren verlaust.
  6. Sie passte höllisch auf und bei uns gab es Gott sei Dank so was nicht. Sie selbst erkrankte aber an Unterleibstyphus. Ich kann mich an das Begräbnis erinnern, sie hatte aus irgendeinem Grund einen roten Verband am Kopf. Sie wurde natürlich ins Krankenhaus gebracht. Unser Zimmer wurde desinfiziert. Tante Olga war schon hochschwanger. Großmutter starb im Dezember, und Tante Olga bekam bereits am 7. März ihre Tochter Irotschka. Und wir kamen dann nach Krasnowodsk und wohnten dort zusammen: die Eltern, ich, Tante Olga und die neugeborene Irotschka.
  7. 1944 wurde der Stiefvater in den Westen zur Donau-Flotte geschickt. Odessa wurde im April 1944 zurückerobert, er wollte dann, dass wir zu ihm kommen. Es wurde ein Viehwaggon mit Pritschen vorbereitet. Acht Familien aus Odessa fuhren in ihre Stadt und wir kamen Anfang Mai dort an, die Deutschen waren erst vor kurzem rausgeworfen worden.
  8. In Odessa wurde er mit dem Wiederaufbau des Hafens beauftragt. Ich kann seine Dokumente aus der Zeit zeigen. Er war mit großen Machtbefugnissen ausgestattet: Waffenbesitz, keine Sperrstunden und so weiter. Wir sahen ihn praktisch nie. Sogar abholen konnte er uns nicht, sein Untergebener brachte uns vom Odesser Güterbahnhof in die Wohnung.
  9. Mein Vater war aber sehr unpraktisch, er war ein erstaunlich ehrlicher Mensch, heute gibt es solche Leuten wohl nicht mehr. Sie gelten als Idioten. Er konnte über alles verfügen, suchte aber eine Wohnung aus, die wir später verlassen mussten, weil die Besitzer zurückkamen. Aber es gab ja andere Wohnungen, wo wir gut hätten unterkommen können. Also, er war unpraktisch, wir lebten furchtbar arm.