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Kostja half mir und ich kam in die kleine Tuchfabrik Loll und Graffunder. Das war in Falkenburg, wo das Lager war. Ich blieb nicht lange da; mein Ziel war es, so weit wie möglich weg von dem Lager zu kommen.
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Und ich sah in der Zeitung „Völkischer Beobachter“ eine Arbeitsstelle ausgeschrieben: Es wurde ein Dolmetscher für zwei Flugzeugbauwerke gesucht – Henschel in Berlin und in Rangsdorf südlich von Berlin, Rangsdorf bei Berlin. Ich fuhr hin und sagte zu, in Rangsdorf zu arbeiten. Da waren 400 Arbeiter, nicht viele. Und bei Henschel gab es schon über 1.000.
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Was machte ich da hauptsächlich? Täglich gab es eine medizinische Versorgung, (ich war) mit den Ärzten zusammen, jeden Morgen. Ein Arzt untersuchte die Kranken aus dem Lager – ein Arzt oder Feldscher. Ich bekam das Essen für die Kinder. Das ist ein spezielles Thema, die Kinder.
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Die Kinder der Ausländer wurden schlecht versorgt, sie waren alle ausgezehrt, die Kinder im Vorschulalter. Unter den deutschen Köchen gab es einen Millert, der den russischen Kindern half – natürlich auf Kosten der Deutschen. Er gab ihnen doppelt so viel Grieß, Butter und Milch wie vorgesehen.
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Und ich machte mit ihnen auch Ausflüge nach Berlin. Oder ich führte sie auf Spaziergänge in Rangsdorf aus. Ich führte Theaterstücke von Ostrowskij und Tschechow auf, z.B. „Gewitter“ und „Lebe nicht so, wie du willst“.
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Ich hatte zwei patriotische Auftritte. Einer war die Grabrede beim Begräbnis von Timosch Mikitenko. Zum Begräbnis kamen alle 400 Leute, das ganze Lager, die ganze Siedlung. Sie gingen in einer Kolonne. Den Text der Rede gibt es im Buch, ich konnte ihn mehr oder weniger wiederherstellen. Und die Reaktionen waren…
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Ich traf später einige Leute (aus dem Lager) wieder. Wenn sie sich an mich erinnern können, dann fällt ihnen gleich meine Rede am Grab von Timosch ein.
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Das war das Heulen von 400 Leuten, Geschrei und Gespräch mit dem Herrgott. Denn sie erkannten in ihm ihr eigenes Schicksal. Er wurde auf die Anweisung des Lagerleiters in der Müllgrube begraben.
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1943 wurde in Mahlow – das ist eine Siedlung drei Stationen von Rangsdorf weiter Richtung Berlin – ein spezielles Krankenhaus für Russen, für sowjetische „Ostarbeiter“ gebaut. Sie wurden amtlich so genannt, „Ostarbeiter“.
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Einmal fuhr ich dahin, um einen genesenden Mann zurückzuholen. Ich ging vom Bahnhof, da führte ein Pfad zum Krankenhaus. Ich sah Gerste um mich, sie war niedrig und kleinkörnig.
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Ich ging und begann ein Selbstgespräch zu führen – auf Deutsch: Wer bin ich? – Ich bin Jude. – Bin ich Jude? – Ja natürlich. – Und wer sind deine Eltern? – Schmilik und Brajndl. – Hast du Geschwister? –
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Ja, die und die. – Wissen sie, wo du bist und wie es dir geht? – Ich weiß es nicht. – Wirst du sie irgendwann wiedersehen? – Ich weiß es nicht. So ein Selbstgespräch hatte ich nur ein Mal in meinem ganzen Leben.