Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Borys Tsargorodskiy

Borys Tsargorodskiy wurde 1936 in Odessa, in der heutigen Ukraine, geboren. Seine Eltern Semjon und Ida Tsargorodskiy (1911 und 1910 geboren) stammten aus kleinen Orten in der Nähe der Stadt. Sie wurden früh Waisen und verdienten sich als Kindermädchen, Haushaltshilfe und Bäcker(geselle) ihren Lebensunterhalt; der Vater trat in den Jungkommunistenverband ein und arbeitete in einer Genossenschaft. Nach der Hochzeit 1935 bekamen sie zwei Söhne, Borys und Moisei (Michael, geb. 1938).
Eine wichtige Rolle in Borys’ Leben spielte sein Onkel Abram (geb. 1918). Seine Mutter hatte sich nach dem Tod ihrer Eltern intensiv um den Bruder gekümmert; er zog 1932 aus einem Dorf, wo er bei einer Tante gewohnt hatte, nach Odessa. Dort studierte Abram Brodskij an einem Technikum und arbeitete in einer Fabrik. Seit 1937 diente er in der Armee, wo er zum „Unterpolitruk“ (Politoffizier) ernannt wurde. Nach der Entlassung kehrte er in die Fabrik zurück und wohnte zusammen mit der Familie seiner Schwester.
Als die deutsche Wehrmacht in die Sowjetunion einmarschierte und die ersten Bomben auf Odessa fielen, war Borys’ Vater beruflich in der Nähe des Kampfgebietes unterwegs, während der Onkel mobilisiert wurde. Abram Brodskij brachte seine Schwester und deren Kinder aus der Stadt in den Ort, wo seine Truppe stationiert war, und sorgte als Militärangehöriger für deren Unterhalt. Als die Front näher rückte, überredete er die Schwester, mit den Kindern in die Evakuierung zu gehen, und rettete so – wie Borys Tsargorodskiy heute sagt – ihr Leben.
Im Sommer 1941 gelangte Borys mit seinem Bruder Moisei und seiner Mutter nach Timaschewo in der Nähe von Samara (Kuibyschew). Der Vater, der vom Evakuierungsort der Familie erfahren hatte, stieß wenig später zu ihnen. Er war wegen gesundheitlicher Probleme wehruntauglich, wurde aber bald zur Arbeitsarmee eingezogen. Nach sechs Monaten musste er jedoch wegen Krankheit entlassen werden, sodass er seine Tätigkeit in einem Militärhospital wieder aufnehmen konnte.
Borys’ Onkel blieb nach Kriegsbeginn zunächst im Raum Odessa. Nach der Eroberung der Stadt durch rumänische und deutsche Truppen floh er aber vor den bald einsetzenden Mordaktionen der Besatzer. Er wurde mit einem falschen Pass festgenommen und geriet in Kriegsgefangenschaft. Nach erneuter Flucht schloss er sich einer Partisaneneinheit im Raum Brjansk an. 1944 erfuhr die Familie im Evakuierungsort vom Tod des Onkels. Zuvor hatte sie durch eine Freundin die Tagebücher und Aufzeichnungen des Onkels über die Kriegszeit erhalten.
1945 kehrte die Familie von Timaschewo nach Odessa zurück. Nach dem Schulbesuch studierte Borys im sibirischen Tomsk an einem polytechnischen Institut, da ihm in seiner Heimatstadt die Aufnahme an der Universität verweigert worden war. Er kehrte später nach Odessa zurück und arbeitete in verschiedenen Betrieben als Konstrukteur und Büroleiter. Nach der Hochzeit bekam er eine Tochter, später heiratete er ein zweites Mal.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion veranlassten die anhaltende Wirtschaftskrise, zunehmende berufliche Unsicherheit und der wachsende Antisemitismus Herrn Tsargorodskiy und seine Ehefrau, die Auswanderung aus der Ukraine in die Wege zu leiten. Bevor es dazu kam, traf Borys ein schwerer Schicksalsschlag: der Tod seiner Frau. Er siedelte dennoch nach Deutschland über und gelangte durch Vermittlung von Verwandten und Bekannten über Bayern nach Köln.
Borys Tsargorodskiy besucht regelmäßig Veranstaltungen in der Jüdischen Gemeinde und ist historisch interessiert. Ein besonderes Anliegen ist ihm die Geschichte seines Onkels. Bereits in der Sowjetunion hatte er mit Nachforschungen begonnen und versucht, die wahren Umstände seines Todes zu klären. Nun plant er ein Buch, das auf den Aufzeichnungen des Onkels beruht, die Biografie Abram Brodskijs vorstellt und seine Lebensleistung würdigt.