Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich heiße Galina Pedahovska (Pedahovskaja), geboren am 22. Dezember 1936. Was kann ich über meine Familie erzählen? Mir ist es gelungen, die Geschichte meiner Familie bis zu den Großeltern zurückzuverfolgen. Unsere Familie ist ungewöhnlich in dem Sinne, dass sie aus einer Mischehe hervorging.
  2. Vater und Großvater meines Vaters, Iwan Lukitsch, stammten aus einer kleinen Stadt in der Ukraine. Ich würde sogar sagen, damals war es keine Stadt, sondern ein kleiner Ort, Olkopol. Heute gehört er zum Gebiet Winniza.
  3. Und in vergangenen Zeiten lag das Städtchen an der ukrainisch-polnischen Grenze und ging mehrmals an Polen über und dann wieder zurück an Russland. Mein Großvater wurde 1859 geboren in der Familie eines…
  4. In der orthodoxen Kirche gibt es so einen Beruf – „Ponomar“, Kirchendiener. Das ist nicht einmal der Gehilfe des Geistlichen, er gehört aber immerhin zum geistlichen Stand.
  5. Mein Großvater verließ sehr früh dieses Städtchen und kam nach Odessa. Von seiner Nationalität her war er russisch-ukrainisch-polnisch, so eine Mischung. In seinem Leben kam es aber so, dass er in Odessa ganz alleine lebte.
  6. Er heiratete irgendwann die Frau, die meine Oma wurde. Er hatte aber wohl keine weitere Verwandtschaft. Warum es so war, wissen wir nicht. In Odessa wurde er ein erstklassiger Anstreicher, er renovierte Wohnungen und mehr.
  7. In Odessa wurde die Preobraschenskij-Kathedrale gebaut, noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Als mein Großvater schon erwachsen war und sich in Odessa niedergelassen hatte… Genauer gesagt, war er noch ganz jung, als er sich da niederließ.
  8. Und später, als er erwachsen und ein ziemlich bekannter Meister war, wurde ihm angeboten, sich an der Restaurierung der Kathedrale zu beteiligen. Sie erfolgte Ende des 19. oder im frühen 20. Jahrhundert. Dafür wurde ihm, einem Bürger aus dem dritten Stand, der Titel eines Ehrenbürgers verliehen.
  9. Dieser Titel wurde dann vererbt und war rechtlich in etwa einem Adelstitel gleichgestellt. Das ist der Großvater väterlicherseits. Meine Großmutter, seine Frau, war Ukrainerin – Marija Fjodorowna, ihr Mädchenname war Majaschenko, verheiratete Pedahovskaja. Sie war Ukrainerin.
  10. Heute kommt es uns seltsam vor, aber damals war es für eine arme Frau durchaus nicht seltsam – sie war Analphabetin. Sie hatten acht Kinder, von denen nur mein Vater überleben konnte.
  11. Mein Vater war offensichtlich ein begabter Junge und hatte den deutlichen Wunsch, diese missliche soziale Schicht zu verlassen. Und wie Sie wissen, jede Geschichte in Russland wird in zwei Teile geteilt: vor der Revolution 1917 und nach ihr.
  12. Er begann seinen sogenannten Aufstieg an der Handwerkerschule. Er schloss sie gut ab und wurde an der Handelsschule zugelassen; heute würde das einer Finanzfachschule entsprechen. Das Studium war kostenpflichtig, dabei musste man auch auf Äußerlichkeiten achten: Uniform usw.
  13. Ich werde Ihnen noch Fotos zeigen, wie das aussah. Seine Eltern konnten ihn nicht unterstützen. Er studierte und gab nebenbei Nachhilfe, bereitete Schüler aufs Gymnasium vor und verdiente sich selbst Studium und Lebensunterhalt. 1913 absolvierte er die Handelsschule und wollte sich weiterbilden.
  14. Er absolvierte die Handelsschule und ihm war klar: Nur mit einem Hochschulabschluss kann man sich ein Leben aufbauen. Für seine soziale Herkunft war das eine regelrechte Heldentat. Er reichte sein gutes Zeugnis von der Handelsschule ein an drei…
  15. Seine Eltern lebten in Odessa und er entschied sich für das nächstliegende Kiewer Institut, das zudem einen guten Ruf hatte. Und er wurde da immatrikuliert.
  16. Er wusste, dass ihm Technik besonders liegt. Und er reichte (das Zeugnis) an drei Polytechnischen Instituten ein, in Warschau, Kiew und Tomsk. Er wurde an allen drei Instituten zugelassen.
  17. Er begann sein Studium, es war 1913. 1914 begann der Erste Weltkrieg. Er war jedoch der einzige Sohn, und daher im damaligen zaristischen Russland vom Militärdienst freigestellt.
  18. Er wollte aber eine Trennung von den Eltern vermeiden und brach das Studium ab. Er kam nach Odessa und begann als Dreher in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten.
  19. Er arbeitete mit Rohlingen für Artilleriegranaten, er drehte sie. Und so arbeitete er den Krieg hindurch.