Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Am 1.8.1941 wurde die sowjetische 6. und 12. Armee eingeschlossen. Die Deutschen machten den Ring zu und trafen sich. Die ganze Zeit waren sie… Und die Deutschen machten einen sehr guten Fang: Soldaten, Kriegsgerät, landwirtschaftliche Maschinen und Lager für Industriegüter.
  2. Am 4.8.1941 löste sich der Stab der 6. Armee selbst auf, eine schreckliche Sache. Ich habe das persönlich gesehen: Der Armeestab, wo wir waren – die politische und Aufklärungsabteilung… Sie befanden sich in einer Grundschule.
  3. . Nachmittags traten etwa 50 Leute an und gingen an die vordere Frontlinie, um sie zu durchbrechen. Die Deutschen hatten Gelegenheit, alle zu töten. (Sie) waren nur mit Pistolen bewaffnet.
  4. Am selben Abend verließen der Chef unserer Aufklärungsabteilung, Oberstleutnant Nowobranez, und sechs Offiziere den Stab, sie fuhren zum Stab des 36. oder 37. Korps. Im Pkw von Nowobranez fuhren einige Offiziere, die anderen stiegen in unseren Lkw ein.
  5. Der Lastwagen hatte eine Plane aus Zelttuch. Da waren drei Dolmetscher, alle drei Juden. Zu uns stieß noch Mischa Schneider aus Stanislawow, heute Iwano-Frankowsk. Er hatte sich freiwillig zur Armee gemeldet gleich nach dem Abiturientenball.
  6. Er war noch nie weg von Zuhause gewesen, der Mischa Schneider. Die Offiziere gingen in den Korpsstab und sagten uns: „Stoßt mit dem Lkw nach Iwanowka durch.“ Sie erfanden diesen Ort, da gab es kein Iwanowka in der Nähe. Ein Iwanowka kann man aber überall in Russland finden.
  7. Sie wurden uns einfach los. Ich verstehe es so: Sie wussten genau, wie die Deutschen mit den Juden umgehen. In der Kriegsgefangenschaft wurden sie alle erschossen. Das haben mir die deutschen Kriegsgefangenen erzählt, ich wusste es schon vorher. Sie wollten uns nicht auf dem Gewissen haben, sie schickten uns nach „Iwanowka“.
  8. Wir kamen in das sogenannte „Grüne Tor“. Das war ein Wald, der mit Lkws, Pferdewagen, allen möglichen Trossen und Sanitätstruppen überfüllt war. Wir fuhren einen ganzen Tag hin und her und verstanden…
  9. Wir hatten keine Verpflegung, wir waren hungrig und durstig. Also, wir mussten da raus. Wir beschlossen, am nächsten Tag die Lage zu klären. Am Morgen des 6. August hörten wir, dass eine Lkw-Kolonne bei Sonnenaufgang durchgebrochen wäre.
  10. War sie wirklich durchgebrochen oder war das nur eine Legende? Es wären noch berittene Kosaken dabei gewesen. Und wir beschlossen, mit der nächsten Gruppe auch unser Glück zu versuchen.
  11. Da war das Dorf Borschtschewoje, auf Ukrainisch Borschtschewa. Wir fuhren aus Wyssokoje nach Borschtschewoje und kamen dann aus Borschtschewoje raus. Weiter gab es keine von unseren Truppen mehr und die Deutschen waren auch nicht zu sehen.
  12. Wir fuhren geradeaus und bogen dann nach links ab und fuhren über ein Weizenfeld. Jeder Lkw aus der Kolonne bahnte sich seinen Weg, um die Wahrscheinlichkeit eines Treffers zu verringern. Und die Deutschen saßen am Rande des großen Feldes und schossen nach und nach auf die Lkws – ein „Kindermord“.
  13. Sie machten sich ein Kinderspiel daraus. Ich saß am Ende der Ladefläche, daneben stand eine Tonne mit Benzin. Und Schneider saß hinten am Fahrerhaus, er dachte, das Fahrerhaus würde ihm beim Frontalbeschuss Schutz bieten. Und ich kann nicht sagen, warum ich am Ende saß, in der Nähe war Benzin.
  14. Die Stelle war offen, allerdings mit einer Plane verdeckt. Ich sah, was hinter dem Lkw passierte. Und der Lkw fuhr mit höchster Geschwindigkeit. Ein Lkw brannte, fuhr aber weiter. Der andere brannte und blieb stehen.
  15. Ich fragte mich: „Brechen wir durch?“ Ich fragte nicht wohin und wie, sondern: „Brechen wir durch?“ Und plötzlich: „Aj!“, das war mein Schrei. Ich hockte und sah eine schmale Flammenzunge unter meinem Knie. Das war eine Explosion, direkt an meinem Bein explodierte eine Mörsergranate.
  16. Ich begriff, ich wurde getroffen, aber wie – da hatte ich keine Ahnung. Gleichzeitig mit der Flammenzunge fing die Tonne Feuer, sie war oben feucht. Sie war zwar gut abgeschlossen, Benzin kennt aber keine Grenzen, und die Tonne war undicht.
  17. Die feuchte Stelle fing Feuer, und ich begriff: „Das war es, die Tonne muss gleich knallen. Das bedeutet einen schnellen Tod durch Blechsplitter oder durch Feuer, was ein grausamer Tod ist.“
  18. Ich drehte mich ganz um und rief: „Schneider, spring ab!“ Er schien unversehrt zu sein, gab mir aber keine Antwort. Ich wartete aber nicht auf die Antwort, ich sprang über die Flammen ab mit dem Kopf nach vorne. Das war ganz unüberlegt, normalerweise bedeutet ein Sturz mit dem Kopf nach unten den Tod.
  19. Ich weiß nicht warum, ich war schon beim Divisions- und Armeestab, ich trug da aber Schuhe mit Wickelgamaschen. Der linke Schuh hakte dann an einem Haken hinten am Lkw fest. Der Lkw schleppte mich noch ein Stück weiter. Wäre es weiter so gegangen, wäre ich tot – (er fuhr) mit höchster Geschwindigkeit. (Der Schuh) fiel aber von alleine ab, er hakte wohl nicht besonders fest. Ich setzte mich, das Feuer war nun ganz groß.
  20. Der Lkw fuhr sehr schnell einige Meter weiter, die Flammen waren furchtbar hoch. Mir wurde klar: Mischa ist verbrannt. Und Walschonok kam auch um. Sie kamen weiter, aber die Deutschen stoppten sie. Walschonok war ein typischer Jude, das sah man ihm aus der Entfernung an.
  21. Ich blieb da sitzen. Vorbei liefen die Soldaten mit Gewehren. Keiner blieb stehen – ich bat darum, mir einen Verband anzulegen. Dann lief eine Offiziersgruppe geduckt, sie blieben sofort bei mir stehen. Sie fragten, ob ich Verbandszeug hätte; ich sagte: Ja. Sie nahmen unter Schwierigkeiten meine Tasche ab und legten einen Verband an.
  22. Dabei sagte einer: „Ei-ei, dich hat es aber erwischt, der ganze Arm ist zerschmettert.“ Und ich konnte es nicht sehen. Ein schrecklicher Gedanke ging mir durch den Kopf: „Sie werden mir gleich einen Gnadenschuss geben, um mein Leiden zu beenden – genauso wie verletzte Pferde erschossen werden.“
  23. Ja, so einen brutalen Gedanken hatte ich. Sie legten mir einen Verband an und sagten, wohin ich gehen muss. Sie hatten eine Karte dabei: „Zum nächsten Dorf.“ Sie nannten den Namen, ich habe ihn dann vergessen. Heute weiß ich, wie es heißt: Dorf Nebeljowka.