Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mein Vater wurde (1930) nach Leningrad versetzt, um das Rechtsinstitut zu „marxisieren“, wie es damals hieß. Er kam nicht alleine (dahin), das war eine ganze Gruppe. Er war der Älteste. Zunächst wurde eine kleine Einrichtung gegründet, daraus wurde LOKA, die Leningrader Abteilung der Kommunistischen Akademie. Die Zentrale der Akademie war in Moskau. Zugehörig waren die geisteswissenschaftlichen Hochschulen: Geschichte, Wirtschaft, Philosophie und Recht.
  2. Er war zunächst Dozent, dann Professor an der Kommunistischen Akademie. Gleichzeitig arbeitete er an der Juristischen Fakultät. Und bald danach… Er arbeitete auch weiterhin in einem Gebäude der Leningrader Uni, den „Zwölf Kollegien“. Jedoch war er nicht mehr der Uni unterstellt. Nun war es das Institut für den Aufbau des sowjetischen Rechts. Und er war zunächst ebenfalls Dozent, dann Professor und Inhaber des Lehrstuhls für Strafverfahrensrecht.
  3. Leningrad war für Karelien als „Betreuer“ verantwortlich. Also Karelien, Petrosawodsk, Solowki und die dortigen Lager, (mein Vater) fuhr öfters dahin. Als der Weißmeer-Ostsee-Kanal gebaut wurde, entstand der Begriff „Umschmiedung“. Es hieß, Menschen können durch Arbeit umerzogen werden. Moskau verlangte von ihm, ein Buch über die „Umschmiedung“ zu schreiben.
  4. Wie schon gesagt, er schrieb sehr viel, veröffentlichte jedes Jahr einen Artikel. 1933 bekam er die Aufgabe, über den Weißmeerkanal zu schreiben. Seine Arbeit wurde 1934 in der Akademie erörtert. Den Text selbst fand ich nicht (mehr), nur die Unterlagen der Erörterung. Das Buch wurde nicht genehmigt, es hätte zu viele Stellen über „Faschistisierung der Politik“, hieß es. 1935, ein Jahr später, wurde das Buch wieder besprochen und wieder nicht genehmigt. Noch schlimmer: Da gab es ein Kapitel über „die faschistischen Verzerrungen in der Politik“.
  5. Die Stelle wurde rot markiert, wie ich im Archiv sah. Das Thema wurde noch größer, denn der Bau des Moskwa-Wolga-Kanals begann. (Mein Vater) konnte das Buch weder 1935 noch 1936 beenden. 1935 wurde er (zu den Lagern) an die Kolyma geschickt, um sich anzuschauen, wie das abläuft. Er war im Fernen Osten, er bekam alles mit. 1936 war das Buch (immer) noch nicht fertig. Die Erörterung wurde auf 1937 verschoben. Er überlebte dieses Jahr nicht.
  6. Ich ahnte gar nichts. Meine Mutter wusste es bestimmt, ich aber nicht. Sie flüsterten etwas untereinander… Ich kann gleich von unseren Wohnverhältnissen erzählen, damit Sie eine Vorstellung davon haben. Ich war nicht einfach ein Dummkopf, ich lebte ziemlich lange mit verschlossenen Augen. Ich spreche darüber, weil es nicht einfach ist, den Sklaven aus sich zu vertreiben.