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In der Sowjetunion und nach ihrem Zerfall in der Ukraine und vor allem im reifen Alter, ganz abgesehen von den Schuljahren, hatte ich immer das Gefühl, dass ich an meine Nationalität erinnert werde. Und nicht einfach die Nationalität, sondern: „Du bist so einer, du unterscheidest dich von den anderen.“ Sogar auf meinem Abiturientenball…
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Ich war ja so viele Jahre mit Jungen verschiedener Nationalitäten auf der Schule gewesen. Und da hörte ich die Worte eines Mitschülers, die nicht besonders freundlich zu unserer Nationalität waren. Das hätte ich von ihm niemals erwartet.
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Auf der Arbeit konnte man das auch hören – wenn nicht offen, dann indirekt. Noch dazu der Alltagsantisemitismus, der überall gegenwärtig war. Bei der pädagogischen Arbeit war er nicht stark ausgeprägt, aber man spürte: Du musst deinen Platz kennen.
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Darin liegt der Unterschied zwischen dem Judentum, das ich in meiner Heimat fühlen wollte, und dem heute hier in Deutschland: In Deutschland erinnert mich keiner daran, dass ich Jude bin. Man fragt mich nach meiner Nationalität und ich sage: „Ich bin Jude.“ Keiner macht dann große Augen, keiner achtet besonders darauf.
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Als ich im Krankenhaus war und danach gefragt wurde, antwortete ich offen, ohne mich zu genieren: „Ich bin Jude.“ Alle hatten irgendwie einen angenehmen Gesichtsausdruck, ohne Sarkasmus, nichts in der Art. Meine Nachbarn im Haus haben verschiedene Nationalitäten, Deutsche und Türken. Der Türke weiß, dass wir Juden sind, und die Deutsche auch. Ich gratuliere den Deutschen zu Weihnachten, und sie gratulieren uns zu Pessach: „Besuchen Sie uns.“
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Ich kenne aber so manche Besonderheiten des deutschen Alltagslebens gut. Wenn du nach Hause eingeladen wirst und da nur eine Tasse Kaffee ohne Kuchen bekommst, bedeutet das, dass man dich nur kennenlernen möchte. Wenn aber Kuchen serviert wird, bedeutet das, dass man sich mit dir anfreunden möchte. Das alles muss man kennen, dazu braucht man etwas Zeit. Keiner hier in Deutschland sagte je zu mir „Shid“.
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Für meine Frau ist das Judentum von sehr großer Bedeutung. Nach der Ankunft in Deutschland kam sie dem Judentum näher als dort, in der Ukraine. Sie nimmt aktiv an verschiedenen jüdischen Veranstaltungen teil.
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Sie ist Mitglied der WIZO (Women’s International Zionist Organisation), der jüdischen Frauenbewegung. Außerdem ist sie sehr aktiv bei der Hilfe für ältere Menschen jüdischer Herkunft. Sie ist der Meinung, hier wurde sie Jüdin.
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In der Ukraine war sie laut Pass zwar Jüdin, fühlte sich aber nicht als Jüdin. Das macht den Unterschied aus zwischen ihrem Dasein in der Ukraine und dem in Deutschland. Was mich anbelangt, so fühlte ich mich immer auch in der Ukraine als Jude und verbarg das nicht.
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Jeden, der mir etwas Negatives in diesem Sinne in der Ukraine sagen wollte, wies ich in die Schranken. So wurde ich seit der Kindheit erzogen. Wenn jemand mich kränkte, wies ich ihn schon im Kindergarten und bis zum heutigen Tag in die Schranken.
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Man wusste dann, dass man mit mir manchmal nicht spaßen kann. Und egal, ob in der Ukraine oder in Deutschland. Wenn ich den Leuten erklärt habe, was Jude bedeutet, haben sie gesagt: „Jetzt ist es mir klar.“