Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich wurde am 28. Dezember 1931 in eine Angestelltenfamilie geboren. Mein Vater Solomon Iossifowitsch Trostanovskij wurde 1900 im ukrainischen Jelisawetograd – später Kirowograd – geboren. (Die Stadt) gehörte damals im Zarenreich zum Ansiedlungsrayon. Mein Vater stammte aus einer relativ orthodoxen jüdischen Familie.
  2. Außer ihm hatte die Familie noch vier Mädchen. Der Vater meines Vaters hatte ein kleines Schreibwarengeschäft in Jelisawetograd. Das Schicksal meines Vaters ist ziemlich interessant. Ab einem bestimmten Alter lernte er im Cheder und besuchte dann die Jeschiwa.
  3. Das Bemerkenswerteste dabei ist: Bis zum Sieg der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ 1917 konnte mein Vater kein Wort Russisch. D.h., die russische Sprache war ihm nicht vertraut. Ich weiß nicht, ob meine Großeltern die russische Sprache beherrschten.
  4. Ich vermute aber, die Familie sprach Jiddisch. Als die Revolution kam, hatte er keine Russischkenntnisse. Erlauben Sie mir von meiner historischen Vergangenheit zu reden und zu betonen: In den letzten Jahren spielen die Medien es hoch, es hätte keine Revolution in Russland gegeben. Das sei ein Staatsstreich, eine Revolte und alles Mögliche gewesen, aber keine Revolution.
  5. Ich erlaube mir, diesen Autoren zu widersprechen, denn, ehrlich gesagt, erstaunen mich ihre Frechheit und Unverschämtheit. Das sind Leute, die sich für Fachleute in russischer Geschichte halten. Und so etwas zu behaupten, das ist absurd. Es ist wohl überflüssig zu erklären, was eine Revolution ist und warum das eine Revolution war, genauso wie die Februar-Ereignisse.
  6. Das war ebenfalls eine Revolution. Jedoch gibt es Irrtümer, man behauptet, dass der Ansiedlungsrayon eigentlich infolge der Oktoberrevolution abgeschafft wurde. Historisch wahr ist aber, dass er von der Provisorischen Regierung infolge der Februarrevolution abgeschafft wurde.
  7. Also, die Oktoberrevolution kam. Er musste sich entscheiden, nach dem Motto: „Auf welcher Seite sind Sie Kulturschaffender?“ Sie wissen, dass der Satz von Alexej Maximowitsch Gorkij stammt. Und überhaupt: „Was tun?“, ganz abgesehen von: „Wer hat Schuld?“ und „Wer sind wir? Wohin gehen wir?“
  8. Mein Vater war während der Revolution 17 Jahre alt. Der Sturm des Bürgerkrieges erfasste alle und alles. Er hat damals begriffen: Die Revolution speist immerhin die Hoffnung, den Ansiedlungsrayon verlassen zu können. Mein Vater war natürlich wie viele junge Menschen Teilnehmer des Bürgerkriegs, auf der Seite der Roten selbstverständlich.
  9. Dann legte sich der Sturm des Bürgerkriegs, und mein Vater verließ als erster in seiner Familie Jelisawetograd. Er zog nach Charkow. Es ist überflüssig, die damaligen Ereignisse und Bildungschancen zu schildern. Er konnte sich jedoch nicht gleich weiterbilden, auf dem Weg gab es ein gewisses Hindernis – seine angeblich falsche soziale Herkunft.
  10. Nun war er mit der Aufgabe konfrontiert, sich die richtige soziale Herkunft zu erarbeiten. Nach dem Bürgerkrieg war er um die 20, die Einzelheiten weiß ich nicht mehr. Charkow war ein sehr großes Industriezentrum, schon seit der Zarenzeit.
  11. Der Vater wurde Schreinerlehrling im Charkower Werk für landwirtschaftliche Maschinen. Das Werk gehörte vor der Revolution der belgischen Firma Helferich-Sade. Später wurde es in „Sichel und Hammer“ umbenannt. Mein Vater arbeitete sechs Jahre im Werk als Schreiner und Zimmermann, um seine soziale Herkunft zu sichern.
  12. Ich möchte sagen, ich sehe nichts Schlechtes daran. Egal, was heute behauptet wird, und egal, wonach man heute sucht, diese Chance gab ihm die Revolution. Wäre es anders gewesen, hätte mein Vater kaum eine Hochschulbildung bekommen, das ist eindeutig. Sechs Jahre, das war allerdings noch nicht genug.
  13. Er musste sich darum kümmern, Russisch zu lernen. Denn es gab keinen Hochschulunterricht auf Jiddisch. Nach der Arbeit als Schreiner war er berechtigt, sich an der Arbeiterfakultät einzuschreiben. Er absolvierte sie und 1925 wurde er Student am Technologischen Institut in Charkow.
  14. Wir lassen Einzelheiten aus, Studium ist halt Studium. Also, fünf Jahre intensives Studium, und 1929 machte er den Abschluss am Technologischen Institut.
  15. Später wurden da andere Institute ausgegliedert, das tut aber nichts zur Sache. 1930 bekam er eine Arbeitsstelle in Charkow. Sein Institut hieß Giprokoks, es existiert vielleicht heute noch.
  16. Das war das Staatliche Entwicklungsinstitut für Koks- und Chemiebetriebe. Dabei möchte ich betonen: Heute betrachtet man es irgendwie skeptisch, wenn ein Mensch sein ganzes Arbeitsleben auf einer Stelle arbeitet.
  17. Wenn du das heute sagst, wirst du als Schwachkopf angesehen. Die Hauptsache ist, die Arbeit zu wechseln. Ich weiß es nicht, da sollen diejenigen urteilen, die den besseren Durchblick haben.
  18. Also, ab 1930 bis zur Rente 1960 arbeitete mein Vater an diesem Institut. Er arbeitetet sich vom einfachen Ingenieur zum Abteilungsleiter hoch. Er hätte auch weiterhin gearbeitet, wurde aber schwer krank.
  19. 1956 hatte er einen schweren Herzinfarkt und 1958/59 eine Krebserkrankung. 1960 ging er in Rente. Danach lebte er nicht mehr lange, er starb 1964 an Krebs mit 63 Jahren. Was kann man da sagen? Ich denke, er führte ein würdevolles Leben.
  20. Ich werde noch etwas von ihm erzählen. Es ist aber so: Jedes Leben hinterlässt Spuren. Bei einigen läuft es glatt, bei anderen im Zickzackkurs und ungerade. Sein Leben war wohl nicht einfach, daher auch so ein Ende.
  21. Noch einige interessante Episoden aus dem Leben meines Vaters. Als er noch arbeitete… Sie wissen vielleicht, dass nach dem Krieg der Warschauer Pakt und der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) gegründet wurden.
  22. Damals wurden also Kontakte zu den Ländern des „sozialistischen Lagers“ geknüpft. Dies sollte man auch nicht so kritisch sehen, es heißt ja: Die Geschichte kennt keine Konjunktive. Was war, das war, und das war unser Leben.
  23. Kurz gesagt, das Institut wurde beauftragt, die Hüttenkombinate im polnischen Nova Huta und im indischen Bhilai zu entwerfen. Das Institut und mein Vater waren natürlich im großen Maße daran beteiligt. Dann war der Entwurf und Bau abgeschlossen, es kam die Zeit, die Arbeit zu bewerten.
  24. Mein Vater war einer unter vielen, das Institut hatte bis zu 1.000 Mitarbeiter. Die Institutsleitung verhielt sich ehrenhaft und schlug meinen Vater für seine Mitarbeit am Projekt für die Auszeichnung mit dem Leninorden vor.
  25. Die zuständige Abteilung der Gebietsverwaltung hat das etwas herabgestuft, auf den Rotbannerorden für Arbeit. Er wurde ihm verliehen. Ich glaube, ich muss keine Kommentare dazu abgeben. Das war eben in diesen Jahren, da ist alles klar. Wie man so sagt: Danke wenigstens für das.