Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die meisten Verwandten mütterlicherseits lebten in Polen. Die Familie war nicht unbedingt reich, aber wohlhabend. Im russischen Zarenreich durften die Juden kein Land besitzen.
  2. Daher waren keine Bauern unter ihnen, sie durften Getreide nicht anbauen. Aber es gab – wie kann man das sagen? – einige Privilegierte… Und das trotz des Staatsantisemitismus in Russland und trotz des Ansiedlungsrayons, den die Juden nicht verlassen durften.
  3. Außerhalb des Ansiedlungsrayons durften nur Akademiker und Kaufleute der ersten Gilde leben. Und diese Leute (meine Verwandten) erhielten eine besondere Urkunde von der zaristischen Regierung.
  4. Damals hieß das Majorat. Majorat, das ist das Recht auf Landbesitz. Dieser Titel war damals Adelstiteln gleichgestellt. Denn die Juden durften kein Land besitzen, und diese bekamen ein Recht darauf.
  5. Allerdings wusste keiner von uns, wo dieses Majorat war, und wir werden es wahrscheinlich nie erfahren.
  6. Das Glas und die Untertasse sind noch erhalten. Wie Sie sehen, ist da der Mädchenname meiner Mutter Pines eingraviert. Sie hieß Anna Pines. Sie können sehen, neben dem Namen ist eine Krone. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Familie ein Sonderrecht auf Landbesitz hatte.
  7. Das wurde etwa einem Adelstitel gleichgestellt. Also, sie hatten Sonderrechte. Ich glaube, von solchen Gläsern gibt es heute sehr wenige, wenn überhaupt. Meines blieb zufällig erhalten, eine Art Reliquie. Das ist die sogenannte… Bei uns in der Familie heißt die Reliquie „das Glas meiner Großmutter“.
  8. So ein gleichmäßiges und glattes Leben wurde dann unterbrochen – zunächst vom Ersten Weltkrieg und danach von der Revolution. Infolgedessen blieb die Kleinfamilie meiner Mutter… Sie waren in Minsk, Weißrussland, und blieben so in (Sowjet-)Russland.
  9. Die Mutter ging später an die Uni in Moskau und absolvierte ein Jura-Studium. Sie arbeitete aber praktisch nie als Juristin, sie unterrichtete Deutsch. Denn nach dem Abschluss kamen die Kinder und sie konnte nicht mehr arbeiten.
  10. Damals gab es andere Ansichten darüber. Und viele Jahre später hätte sie Vieles neu machen müssen usw. Deutsch konnte sie von Kindheit an, sie hatte bis zum zehnten Lebensjahr Schulunterricht auf Deutsch. Das war ihre Muttersprache. Im hohen Alter sagte Mama zu mir: „Manchmal erwische mich dabei, dass ich auf Deutsch denke.“
  11. Allerdings sprach sie auch ein hervorragendes Russisch, sie lebte ihr ganzes Leben lang in Russland und war mit der Literatur, Kultur usw. bestens vertraut. Sie sprach ohne jeglichen Akzent usw. Jedoch sprachen die Eltern miteinander Deutsch, wenn sie nicht wollten, dass ich sie verstehe.