Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mein Vater beschäftigte sich zunächst… Nach seinem Hochschulabschluss kam die Revolution, und nach ihr waren die Fabriken ruiniert. Er begann sein Arbeitsleben beim Werk „Geissler und Co.“. Das war die Niederlassung einer deutschen Firma in St. Petersburg, die Telefone und auch spezielle Geräte baute.
  2. Dank der Beziehungen zu seinem Schwiegervater, der im Holzhandel war, beschäftigte er sich später mit Holzverarbeitung und Holzhandel. Und er wurde allmählich Leiter des Kontors für Holzexport.
  3. Das Kontor befand sich am Newskij-Prospekt in St. Petersburg, in einem der schönsten Gebäude. Die Petersburger kennen es, es ist das Bankhaus Wawelberg.
  4. Sein Büro war sogar genau da, wo der Bankier Wawelberg sein Büro gehabt hatte. Man muss sagen: In dieser Zeit, das war Anfang der 1930er-Jahre, waren Geräte und Devisen im sowjetischen Russland sehr vonnöten.
  5. Damals gab es aber fast nichts zum Ausführen. Der Export bestand aus zwei Waren: Holz, meistens unverarbeitet, und Hanf, damals noch verbreitet in der Schiffstauherstellung. Und das Holz wurde über zwei Wege exportiert: über St. Petersburg, dieser Hafen vereiste aber und wurde im Winter nicht benutzt. Und über einen eisfreien Hafen in Murmansk.
  6. Also, es lief über diese zwei Häfen. Das Kontor befand sich in Leningrad. Das war damals eine wichtige Devisenquelle.
  7. Man muss sagen: Der Aufstieg von Stalin, das autoritäre Regime und dessen negative Folgen, das alles begann gerade Anfang der 1930er-Jahre. In dieser Zeit wurde der Vater verhaftet. Damals fanden die ersten Prozesse statt, z.B. gegen die „Industriepartei“.
  8. Die Jahre 1937/38 mit den Massenrepressalien und willkürlichen Verhaftungen waren noch nicht gekommen. Vorher gab es auch willkürliche Verhaftungen, aber es war noch irgendwie milder.
  9. Also, er wurde nach der Denunziation seines Stellvertreters verhaftet, der gesagt hatte: „Ich bin ein ‘Schädling’ unter der Leitung von Maisel.“
  10. Die Untersuchungsrichter mussten unbedingt von einem das Geständnis der eigenen Schuld bekommen, man musste etwas unterschreiben. Die Beschuldigungen waren vollkommen erfunden und absurd. Und viele dachten: „Gut, ich unterschreibe das.
  11. Dann kommt ein gerechtes Gericht, und alles wird sich klären. Je mehr ich gestehe, desto absurder wird es aussehen.“ Und sie haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.
  12. Keiner nahm sich der Sache an, es gab keinen Prozess, und sie alle wurden erschossen. Der Vater saß etwa zwei Jahre lang in Einzelhaft. Er erzählte mir einmal: Da er in Einzelhaft war und keine Kontakte hatte, wusste er nicht, wie sich die anderen verhielten, und traf die Entscheidungen alleine.
  13. Das half ihm einigermaßen. Er fasste den Entschluss: „Ich unterschreibe und gestehe nichts, ich trage keine Schuld.“ Und er blieb dabei. In dieser Zeit, Anfang der 1930er-Jahre, gab es noch sogenannte milde Foltern.
  14. Es wurde noch nicht gefoltert wie im Mittelalter – mit Nägeln, glühendem Eisen und Halbtotschlagen. Damals wurde z.B. durch Schlafentzug gefoltert. Der Häftling saß in der Zelle, und die Glühbirne war sehr grell, er konnte nicht schlafen.
  15. Oder es gab ein pausenloses Verhör: Die Untersuchungsrichter wechselten sich nach Stunden ab, und er schlief im Stehen ein. Sie warteten auf den Moment, wo er es nicht mehr aushält und unterschreibt. Oder er wurde in ein leeres Fass gestellt, in dem er nicht sitzen durfte, er musste da 24 bis 48 Stunden stehen. Und die Beine wurden sehr schwer.
  16. In dieser Zeit rettete sein Bruder Noj ihm das Leben. Er war damals eine bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Riga, Redakteur einer wichtigen Zeitung und allgemein eine bekannte Person.
  17. Später traf ich noch alte Rigaer, die erzählten: „Ja, Maisel kannten alle.“ Was ungewöhnlich war: Mein Vater und ich sind dunkelhaarig, und er war rothaarig. Er fuhr zum sowjetischen Botschafter in Berlin und erklärte, dass sein Bruder keine Schuld habe. Sollte es zu Repressionen kommen, würde er die Presse alarmieren und die ganze Welt würde es breittreten.
  18. Es war zu der Zeit, als die Sowjetunion am Kontakt zum Westen interessiert war; sie brauchte Maschinen und Handel. Die Beziehungen zu Deutschland waren gut, und das spielte wohl eine Rolle dabei. Der Vater wurde freigelassen.
  19. Nach Vaters Verhaftung bekam die Mutter das zweite Kind, ein Mädchen. Vater war im Gefängnis, er wurde nach Moskau verlegt. Mutter war in Petersburg, sie pendelte zwischen Moskau und Petersburg. Das Kind war krank und starb. Mich gab es noch nicht, ich wurde 1935 geboren.
  20. Danach wurde Vater nicht mehr angerührt. Das repressive System ist schwer zu verstehen. Da gab es überhaupt keine Logik und es ist schwer, etwas zu begreifen. Später… Zum jüdischen Thema muss man sagen: Vor dem Zweiten Weltkrieg oder „Großen Vaterländischen Krieg“, wie er in Russland heißt, war der Staatsantisemitismus kaum zu spüren. Der Staatsantisemitismus begann in Russland eigentlich während des Krieges und florierte nach dem Krieg. Er begann jedoch während des Krieges.