Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Als wir dann in Krasnokamsk waren, mussten wir allmählich zu uns kommen. Dann normalisierte sich das Leben irgendwie. Der Vater ging arbeiten und unterrichtete an einem Technikum – Elekrotechnik, Mathe usw. Die Mutter gab Deutschunterricht an der Schule.
  2. Man muss sagen, das Leben wurde erst kurz vor 1943 leichter. Und am Anfang war es sehr schwer. Leichter wurde es, nachdem die oberste Führung und Stalin selbst begriffen hatten, dass sie die ganze Wissenschaft zerschlagen hatten.
  3. Der Krieg wurde aber dauerhaft, und das war auch ein Wirtschaftskrieg, d.h. auch ein Krieg der Wissenschaften, der Kriegsgeräte usw. Die überlebenden Wissenschaftler wurden dann von der Front zurück geholt und mit Vergünstigungen ausgestattet. Die Privilegien bestanden darin: Erstens wurden Spezialgeschäfte eröffnet, wo man Lebensmittelkarten einlösen konnte. Ein Spezialgeschäft für Professoren und eines für Dozenten.
  4. In so einem Geschäft konnte man Waren bekommen. In einem anderen ging das nicht, dort gab es z.B. keinen Zucker. Du hast zwar eine Karte, bekommst jedoch keinen Zucker, und einen Monat später ist die Karte nicht mehr gültig. Und es gab noch weitere kleine Vergünstigungen, so wurde das Leben leichter, man konnte für die Karten Lebensmittel bekommen.
  5. Ich möchte noch davon erzählen, was ich persönlich gesehen habe: 1942 konnten wir noch die deportierten Russlanddeutschen sehen. Sie wurden aus der Wolga-Region und zum Teil aus der Ukraine deportiert, aus der Ukraine konnte man allerdings nicht alle wegbringen.
  6. Die meisten waren Wolgadeutsche. Die Männer kamen direkt in die Lager, die Frauen wurden später ebenfalls verbannt. In der ersten Zeit lebten sie in Lagern, wo sie freien Ausgang hatten. Das waren Baracken, aber die (Deutschen) waren frei, sie waren keine Gefangenen.
  7. Dabei durften sie nicht arbeiten. Keine Arbeit bedeutete keine Lebensmittelkarte und nichts zu essen. Und ihre Lage war einfach schrecklich; das waren Frauen mit Kindern.
  8. Ich möchte über die deutschen Frauen erzählen. Sie besuchten uns und waren mit meiner Mama sehr befreundet. Der Grund dafür war ungewöhnlich. Das waren die Deutschen, die noch zur Zeit von Peter oder Katharina nach Russland übergesiedelt waren, d.h. 200 oder 250 Jahre zuvor.
  9. Ihr Deutsch war anders als das moderne Deutsch, sie sprachen einen altertümlichen deutschen Dialekt. Und die für sie zuständigen Dolmetscher, die Deutsch studiert hatten, konnten es schlecht verstehen.
  10. Und Mama, die seit ihrer Kindheit Deutsch sprach, konnte sich mit ihnen problemlos unterhalten. Sie schätzten das sehr und halfen uns wesentlich, denn das Leben war sehr schwer. 1942 war klar: Fürs Überleben braucht man einen Nutzgarten, wo man vorwiegend Kartoffeln anpflanzen konnte.
  11. Die Evakuierten bekamen kleine Parzellen. Das Land war aber für die Landwirtschaft ungeeignet, es wurde zuvor überhaupt nicht benutzt. Das war purer Sand, wie in einer Sandwüste; da konnte nichts wachsen.
  12. Man musste ihn irgendwie soweit bearbeiten, dass dort etwas wachsen konnte, z.B. Kartoffeln. Wir beschäftigten uns damit, und die Frauen halfen uns dabei, das war 1942.
  13. Um Kartoffeln im Sand anpflanzen zu können, musste man ihn düngen. Es gab aber keine Düngemittel außer Fäkalien aus der Toilette.
  14. Man musste sie in Eimern zum sandigen Landstück schleppen, dort ein kleines Loch graben, etwas vom Zeug hinein tun und zuschütten, denn sonst wächst nichts.
  15. Danach wurde eine schmale Kartoffelscheibe mit einem Keimling eingepflanzt und mit Sand zugeschüttet. Danach musste man das pflegen. Und sie (die Deutschen) waren zu jeder Arbeit bereit.
  16. Wir konnten sie aber nicht bezahlen, wir kamen ja selbst gerade so zurecht. Wir fragten sie: „Wie können wir Sie bezahlen?“ Wir schnitten damals Augen aus Kartoffeln heraus, schälten den Rest und kochten ihn. Die Schalen waren natürlich hauchdünn.
  17. Normalerweise kochten wir Pellkartoffeln. Und die Frauen sagten: „Geben Sie uns die Schalen.“ Mama war sehr verwundert und fragte: „Was wollen Sie mit den Schalen tun?“
  18. Sie sagten: „Wir kochen sie etwa vier Stunden lang. Sie lösen sich auf und verwandeln sich in Stärke. Und die Erde setzt sich auf dem Boden ab.
  19. Dann gießen wir diese Lösung ab, stellen sie aufs Feuer und lassen sie noch mal vier Stunden verdunsten. Dann bleibt so etwas wie Stärkekleister übrig.“ Diesen Kleister aßen sie um zu überleben.
  20. Ich war ein ziemlich mageres Kind, körperlich schwach. Das war aber nicht schlimm. Was die Herkunft anbelangt: Da gab es natürlich den alltäglichen Antisemitismus.
  21. Aber ich war ja auf der Schule. D.h. im Rahmen der Schule, unter den Jungs, konnte man das spüren. Ich spürte das natürlich und brauchte Schutz. Manchmal lief ich davon, manchmal schützte mich meine ältere Schwester. Man musste sich daran irgendwie gewöhnen.