Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Warum wir (hierher) kamen? Eigentlich sollten wir nach Amerika gehen. Jedoch nach dem Tod meiner Schwiegermutter, wir haben zusammen gewohnt… Nach ihrem Tod verbrannten wir alle unsere Einreisepapiere für Amerika. Meine Freundin fuhr dann nach Moskau, um das Visum zu verlängern, und sagte: „Komm, ich kann dein Visum auch verlängern.“ Ich sagte: „Sofa, wir haben alles verbrannt.“
  2. Und sie lebt heute in Amerika, ich war zu Besuch in Amerika. Und es war so, dass wir nur eine Chance hatten, und zwar nach Israel auszuwandern. Und wir hatten entsprechende Dokumente für Israel. Mein Mann sagte aber… Er war in Odessa: „Maya, ich war in Odessa. Du musst wissen: Wenn viele Juden da sind, ist das eine Katastrophe. Wir gehen nach Deutschland.“
  3. Und wir bekamen die Dokumente für Deutschland und kamen 1992 unter den ersten (hierher). Ich sagte aber vorher: „Ich muss das noch fertig nähen.“ Die Zeit lief ab, ich hätte längst die Koffer packen müssen, nähte aber immer noch. Ich sagte ihm: „Wenn ich sterbe, soll die Nähmaschine in mein Grab gelegt werden.“
  4. Denn so ein Mensch bin ich, ich arbeite die ganze Zeit. Also, wir beschlossen nach Deutschland zu kommen, denn er sagte, hier sei es ruhiger als in Israel. Und wir kamen nach Deutschland. Uns wurde Köln zugewiesen. Vielleicht wissen Sie, damals war Frau Butz in Unna-Massen. Eine sehr gute Frau.
  5. Da war noch eine Frau, die gut Deutsch konnte. Und wir konnten es nach der Ankunft überhaupt nicht. Denn wir haben Jiddisch nicht gelernt, wir kannten nur wenige Worte vom Hörensagen. Ich habe zwar Deutsch bis zur zehnten Schulklasse gelernt. Aber Sie wissen ja, wie wir Fremdsprachen gelernt haben. Kurz gesagt, in Unna-Massen… Und er (mein Mann) war Diabetiker.
  6. Und in Köln musste man damals auf einem Schiff wohnen und mit den anderen zusammen essen. Er war aber Diabetiker, er konnte es nicht. Er musste essen, wann ihm danach war. Und wir sagten zu Frau Butz: „Wir können nicht hin, aufs Schiff, weil er krank ist.“ Sie fragte: „Wollen Sie dann nach Dortmund?“
  7. Wir sagten ja und kamen nach Dortmund. Und ich lebe in Dortmund seit Januar 1992. Wir wurden in der ersten Zeit auf jeden Fall sehr gut empfangen. Wir wussten nicht, woher das Geld für uns kommt, z.B. Weihnachtsgeld. Wir kamen gerade Weihnachten an und bekamen Weihnachtsgeld in Unna. Wir erhielten dann auch Geld für Kleidung und dafür, dass wir angekommen sind.
  8. Und als das Gepäck kam… Gepäck, weil ich die Nähmaschinen mitnahm. Ich wusste ja nicht, wie es hier aussehen wird. Ich nahm meine „Singer“ und Overlock-Nähmaschine mit. Ich nahm alles mit, was ich für die Arbeit brauchte. Und mein Mann nahm sein Werkzeug mit, er konnte ja alles. Zu uns kamen dann alle, wenn sie mal eine Säge oder einen Schraubenzieher brauchten.
  9. Keiner sonst hat ja so etwas mitgenommen. Und mein Mann hat alles mitgenommen. Jetzt stehen seine Koffer mit den TV-Bauteilen und dem Werkzeug bei mir zu Hause. Denn er hatte geschickte Hände. Also, dann kamen wir hierher. Zuerst waren wir in der Notwohnung hier an der Unterführung. Dann kam unser großes Gepäck. Ich nahm Stoffe mit, denn ich wusste nicht, wie es hier sein wird. Ich wollte Mieder usw. nähen. Ich nahm die große Singer-Nähmaschine mit.
  10. Wir wohnten fast ein Jahr in der Notwohnung. Später wohnten wir in Wickede. Dort konnten wir nicht bleiben, denn… Wir wohnten im Erdgeschoss und hatten viel Pech. Mal wurden die Scheiben an unserem Balkon zerschlagen, mal wurde irgendein Mist darauf geworfen. Kurz gesagt, wir riefen die Polizei. Die Polizei nahm ein Protokoll auf.
  11. Später kamen die Kinder, die das gemacht hatten, zu uns, um sich zu entschuldigen. Wir entschieden aber, in den dritten Stock zu ziehen. Und warum waren wir im Erdgeschoss? Ich fürchtete, die Nähmaschinen könnten jemanden stören. Und dann stellten wir etwas unter die Nähmaschinen und es war überhaupt nicht laut. Sie sind leise, ich dachte aber…
  12. Wissen Sie, das ist meine alte Mentalität, noch aus der Sowjetunion: Niemanden kränken und niemandem schaden. In der Zeit, als wir nach Deutschland kamen, war es in Kiew nicht einmal möglich, Mineralwasser für die Fahrt zu kaufen. Und überhaupt war es sehr schwierig.
  13. Wir verkauften alles spottbillig, weil unsere Rente bei weitem nicht ausreichte. Unser Leben wurde sehr schwer. Und wissen Sie, dann kamen die Westukrainer usw. Das Leben wurde schwer einfach wegen der „Nationalitätenfrage“, es wurde sehr schlecht. Deswegen wanderten wir aus. Wie schon gesagt, wir wollten zuerst nach Israel und dann doch nach Deutschland.
  14. Ich war (noch) zweimal in Kiew, weil ich den Friedhof besuchen wollte. Dort sind die Eltern meines Mannes begraben. Und wo meine Eltern sind… Der Vater fiel an der Front, vermisst. Und Mama starb in Tschimkent, ich weiß auch nicht, wo…
  15. Deswegen fuhr ich zu dem Friedhof, wo die Eltern meines Mannes sind. Ich habe für die Grabpflege gezahlt. Denn dort ist alles zugewachsen, alle sind weggezogen. Der Friedhof ist zugewachsen, das Gras steht kopfhoch, schrecklich. Trotzdem musste ich hin, ich suchte das Grab meiner Schwiegereltern zweimal auf.
  16. Wir kamen hierher und ich begann sozusagen ein Zubrot zu verdienen. Ich bin eigentlich Zuschneiderin für Unterwäsche, ich nähe Mieder, BHs und diverse Damenaccessoires. Nach der Ankunft hier… Hier war Liwana früher die Chefin in der Küche. Sie half bei den Bestattungen usw.
  17. Sie war Köchin, und ich nähte ihr damals einige Schürzen. In dieser Zeit nähten die deutschen (Jüdinnen) die Tachrichin. Sie wissen, das ist Totenbekleidung. Und diese Deutschen wollten das nicht mehr nähen. Sie fragte mich dann: „Willst du es nähen?“
  18. Sie müssen genäht und dann sorgfältig gebügelt werden, damit sie sehr glatt sind. Heute bin ich älter usw. und kann nicht mehr alles machen. Und ich habe eine Freundin, sie bügelt und ich nähe. Die Gemeinde zahlt uns Geld dafür, dass wir die Tachrichin nähen.