Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Der Vater ging gleich mit mir zur Uni, zum Rektor. Ich zeigte meine Ausweise – ich hatte (schon) zwei Jahre in Riga studiert -, und wurde für das dritte Studienjahr zugelassen, obwohl ich einiges nachzuholen hatte. Allerdings hieß es: „Wie können Sie ohne Sprachkenntnisse weiter studieren?“ Ich sagte: „Ich werde sie erarbeiten.“ Und sie halfen mir noch mehr: Alle Studenten mussten für die Front arbeiten, die deutschen Truppen kamen näher.
  2. Und ich durfte bleiben, um Russisch zu lernen. Gut, nicht wahr? Ich hatte Glück. Ich saß den ganzen Sommer zu Hause und las die entsprechenden Lehrbücher. Meine Mutter half mir, Russisch zu verstehen, so erlernte ich es. Danach begann das Studium. Aber wissen Sie, ich hatte drei gute Jahre in Saratow. Bald danach kam die Leningrader Uni.
  3. Ich habe noch nicht gesagt, dass ich in Riga begonnen hatte, Kunstgeschichte zu studieren. Und da kommt die Leningrader Uni und mit ihr auch ein Kunsthistoriker. Ich lief sofort (hin)… Gesetzlich war es aber verboten, von der Saratower auf die Leningrader Uni zu wechseln. Ich erhielt aber die Erlaubnis.
  4. Ich kam auf die Leningrader Uni und besuchte Vorlesungen für Kunstgeschichte. Sie waren miserabel, und ich begriff: Für mich ist das nichts. Doch da war der Professor Matvei Gukowskij, er hielt Vorlesungen über die Kultur der italienischen Renaissance. Das waren Vorlesungen! Er war ein großartiger Fachmann und Kenner, und ich vergaß den Kunsthistoriker, was der mir furchtbar übel nahm. Ich ging zu Gukowskij, wurde seine Schülerin und schrieb eine Jahresarbeit zu dem Thema.
  5. Im September 1944 verließ ich meine Eltern; als die Uni nach Leningrad zurückkehrte, fuhr ich mit. Ich machte dort die Staatsexamina und wurde Doktorandin. Ich lebte nur ein Jahr in Leningrad, ein wunderbares Jahr lang. Auch wenn es während des Krieges war, behielt ich die schönsten Erinnerungen an diese Zeit. Erstens war das Verhältnis der Professoren zu mir sehr gut.
  6. Ich habe noch nicht erzählt, dass alle Professoren der Leningrader Uni in Saratow in einem Gebäude wohnten. Das war das ehemalige Hotel Russland, es wurde „Ungewaschenes Russland“ genannt – ich weiß nicht warum... Da lernte ich die Professoren näher kennen. Mein Maitre Matvei Gukowskij hatte einen Bruder Grigorij, ein berühmter Spezialist für russische Literatur.
  7. Ich sprach mit seiner Frau und seinen Kindern. Das waren gute Kontakte, ein gutes Milieu. Und in Leningrad blieben sie erhalten. Wir hatten Begegnungen mit den Professoren, ich weiß nicht, warum sie uns empfingen. Wir waren etwa sechs Leute, eine Gruppe von Historikern, die immer zusammen waren. Und ich hatte wieder Glück. Wissen Sie, was damals eine Brotkarte bedeutete?
  8. Ich erhielt mal einen Brief von den Eltern aus Saratow, das war am Postamt im Stadtzentrum. Ich saß dann auf der Fensterbank und las den Brief. Danach ging ich nach Hause. Da entdeckte ich, dass ich meine Tasche mit der Brotkarte vergessen hatte. Ich fand sie natürlich nicht mehr. Am nächsten Tag aber rief das Dekanat mich an, es hieß: „Holen Sie Ihre Brotkarte ab.“ Jemand hatte sie gefunden und abgegeben. Ich weiß noch, ich ging dann… Waren Sie mal in Leningrad?
  9. Ich ging durch den Universitätshof, an diesem langen Gebäude entlang und hörte jemanden laut rufen: „Du Pflaume!“ Ich drehte mich um: „Was ist los?“ Es war unser Dekan Professor Mawrodin, er begrüßte mich so – und wusste schon von dieser Geschichte. Allgemein war der Umgang herzlich, und wir alle Studenten arbeiteten, leisteten gesellschaftliche Arbeit. In Saratow arbeitete ich in den Hospitälern, wir machten Heilgymnastik mit den Verwundeten. Und da (in Leningrad) halfen wir in der Kantine aus, das war selbstverständlich. Ich wohnte im Wohnheim, das war nichts besonderes, wir erfreuten uns des Lebens.