Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Im Frühjahr 1943 ging der Kontakt zu den Partisanen verloren: Die Deutschen hatten die (Wege) blockiert. Man war bereit, Gruppen organisiert in den Wald zu bringen. Der Kontakt wurde aber abgebrochen. Und dann…
  2. Daran kann ich mich gut erinnern, das ist schon meine Geschichte. Da Mama aus einem weißrussischen Dorf stammte und an der weißrussischen Fakultät studiert hatte… Sie hatte rotes Haar. Ihr wurde gesagt: „Rosa, du musst Kontakt zu den Partisanen aufnehmen, damit wir wieder die Leute dahin schicken können.“
  3. Sie sagte, sie würde nur mit mir gehen. Und ich war schwarzhaarig und konnte schon einiges auf Jiddisch sagen. Denn so sprachen die Kinder um mich. Und wir schimpften, wenn wir mit den Kindern aus dem russischen Stadtteil eine Schneeballschlacht machten.
  4. Sie riefen uns zu: „Verfluchte Shidy!“ Und wir riefen zurück: „Shidy!“ Dann erklärte mir Mama, das darf man nicht sagen. Also, sie sagte, sie geht das Risiko ein und nimmt mich mit.
  5. Dann kamen wir aus dem Ghetto heraus, auf uns wartete ein weißrussischer Untergrundkämpfer. Er war ein wirklich mutiger Mann. Sie lebten in einer Baracke, er hatte drei Kinder und arbeitete bei der Eisenbahn. Er brachte uns zu sich nach Hause, Mama nahm das jüdische Zeichen ab.
  6. Und wir warteten drei Tage lang auf einen Zug nach Weißrussland, wir versteckten uns unter seinem Bett. Er gab uns zu essen, aber die Nachbarn – da war alles möglich. Er hatte drei Kinder, der Andrej Muraschko.
  7. Am Abend brachte er uns zum Güterbahnhof, ein Zug fuhr nach Westen, nach Dserschinsk. Er setzte uns auf einen Plattformwagen. Wir fuhren einfach so, ohne zu wissen, was weiter passiert.
  8. Der Plattformwagen hatte niedrige Seitenwände, sie hingen herunter. Da lagen irgendwelche Eisenbahnräder. Dieser Güterzug fuhr langsam und hielt irgendwo.
  9. Ich weiß noch, einmal leuchtete jemand mit einer Taschenlampe und sagte auf Deutsch: „Matka, die Papiere!“ Das kenne ich von Kindheit an, ich war schon fünf. Sie antwortete auf Deutsch: „Unser Haus ist verbrannt, wir fahren nach Westweißrussland, um die Verwandten zu suchen. Das Kind ist krank, keine Papiere…“
  10. Der Deutsche hatte Mitleid mit uns und winkte ab: „Fahr weiter!“ Damals gab es viele Leute in der Art, die nach Westweißrussland fuhren, um etwas zu kaufen oder zu verkaufen. Wir kamen dann zu einer Station. Mama erzählte später, das war schon 50 Kilometer westlich von Minsk.
  11. Wir gingen dann in die Dörfer und fragten: „Wo sind die Partisanen?“ Keiner sagte was, sie hatten Angst vor Verrätern. Die Bauern gaben uns aber zu essen. Sie ließen uns nicht bei sich übernachten: „Geht auf den Heuboden.“
  12. So waren wir etwa zehn Tage unterwegs und fanden die Partisanen. Und weiter… Ja, das hat mit Psychologie zu tun: Wir waren frei und außerhalb der Stadt, wir konnten in den Wald gehen. Aber wir kehrten nach Minsk zurück.
  13. Erstens fühlte sich Mama dazu verpflichtet, die Leute hatten sie dahin geschickt. Und zweitens konnten wir nirgendwo unterkommen. In die Dörfer durften wir nicht, und im Wald wären wir umgekommen, obwohl die warme Jahreszeit schon begonnen hatte.
  14. Heute verstehe ich, dass wir viel riskierten: Wir kehrten nicht direkt ins Ghetto zurück, sondern zu diesem Andrej. Er brachte uns zum Ghetto, daran kann ich mich erinnern. Es war wohl am Abend, es war grün, die Sonne ging unter. Wir standen auf der anderen Straßenseite und warteten, bis eine Streife vorbeigezogen war.
  15. Das Ghetto wurde praktisch kaum bewacht, eine Streife ging eigentlich nur herum und auf der Hauptstraße. Kaum war keiner mehr da, liefen wir rüber, er hob den Stacheldraht und wir krochen hinein. Dicht am Stacheldraht standen die Häuser.
  16. Jemand sagte: „Rosa, nach Ihnen wurde schon gesucht.“ Was sollten wir tun? Mama kam ins Krankenhaus – da war die Untergrundorganisation – und tat so, als ob sie Typhus hätte oder Grippe. Und ich wurde zu einer Frau gebracht, die zwei Töchter hatte. Dazu war sehr viel Vertrauen notwendig, denn es wurden die sogenannten Kinderaktionen durchgeführt:
  17. Die Eltern gingen arbeiten, ihre Kinder wurden dann abgeholt und auf Last- oder Gaswagen verladen. Die Eltern kamen dann zurück, keiner war mehr da. Und ich war zwei Wochen bei Tante Sara. Es herrschte Hunger. Ihre Töchter leben jetzt in Israel. Sie selbst starb da vor etwa acht Jahren. Und dann bekam sie (die Mutter) die Dokumente auf den Namen ihrer Schwester, Rosenberg.