Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Der Vater wurde 1904 in Lodz in Polen geboren. Damals gehörte es zu Russland, später war es Polen. Es war eine gewöhnliche jüdische Textilarbeiterfamilie. Lodz war eine Textilstadt.
  2. Relativ spät erfuhr ich, dass er da Schwestern hatte. In Polen gab es eine breite Protestbewegung und jüdische Organisationen, die gegen die (Politik der) „Sanierung“ von Pilsudski protestierten.
  3. Er trat früh der Polnischen Kommunistischen Partei bei – 1921, als er erst 17 war. Er machte aktiv bei der kommunistischen Arbeit mit, die Partei arbeitete im Untergrund, die KP war verboten.
  4. Damals schleusten die polnische Führung und der Sicherheitsdienst Provokateure in die kommunistischen Organisationen ein. Sie verrieten die ganze Organisation, danach kam es zu großen Prozessen. Bei einem Prozess wurden 30 bis 40 Leute angeklagt und die Provokateure traten als Zeugen auf, so war ihre Arbeit.
  5. Ungefähr dasselbe passiert heute mit der NPD, da kann man nicht… Da die Provokateure für die Partei sehr gefährlich waren, wurde beschlossen, sie zur Strafe zu töten, hinzurichten.
  6. Und besonders interessant ist: Die meisten, die diesen Parteibeschluss ausführen mussten… Der Polnischen Kommunistischen Partei wurde später vorgeworfen, die meisten da wären Juden gewesen.
  7. Denn in Polen gab es drei Millionen Juden; später wurde geschrieben: Sie waren unter dem nationalen und kapitalistischen Joch. Und sie traten der verbotenen KP und den Gewerkschaften bei.
  8. Und die meisten Urteile vollstreckten die Juden. Das war der bekannte Naftali Botwin und andere. Sich in die polnische Geschichte zu vertiefen ist schwer. Und mein Vater erhielt auch so einen Auftrag. Ich habe seine Notizen darüber gelesen.
  9. Er musste einen beobachten und ihn am Bahnhof während eines Prozesses aus nächster Entfernung erschießen. Er kannte ihn persönlich. Und er hat ihn da getötet. Für unsere Begriffe war er Terrorist, ich stamme aus einer Terroristenfamilie. Er versteckte sich praktisch nicht. Dann kam er vor Gericht.
  10. Er war der Erste in Polen, der wegen eines (Terror-)Aktes nicht hingerichtet wurde. Die anderen bekamen die Todesstrafe. Da gab es eine Protestbewegung, und er bekam für den Mord sieben Jahre und weitere fünf Jahre für die Mitgliedschaft in der KP. Er saß in einem Zuchthaus
  11. Die Bedingungen waren sehr schwer, er litt da an Avitaminose. Und die sowjetische und polnische Regierung tauschten regelmäßig politische Häftlinge aus. (In Russland) gab es viele polnische Spione und „Ehemalige“, sie wurden dann ausgetauscht.
  12. 1932, als er sieben Jahre abgesessen hatte, wurden sie mit Handschellen nach Negoreloje gebracht. Negoreloje war an der polnischen Grenze, 30 Kilometer von Minsk entfernt.
  13. Und sie wurden dort ausgetauscht. In dieser Gruppe war auch Boleslaw Bierut, der spätere polnische Präsident, und Wera Chorunshaja, die dann Heldin der Sowjetunion wurde.
  14. Da waren viele bekannte Leute, die Gruppe war groß. Da waren auch viele ehemalige weißrussische Abgeordnete des polnischen Sejms, z.B. Roschkewitsch, ein sehr bekannter Wissenschaftler. Die meisten wurden dann nach einer kurzen Behandlung in Sotschi nach Moskau geschickt.
  15. In Moskau gab es damals die kommunistische Marchlewskij-Universität für nationale Minderheiten aus dem Westen. Sie haben wohl nie davon gehört. Und es gab noch eine (Uni) für die Völker des Ostens.
  16. An der kommunistischen Uni gab es folgende Fakultäten: die polnische, rumänische, griechische, deutsche, französische und jüdische. Die Leute aus Palästina und anderen Ländern gingen dahin.
  17. Es gab auch eine weißrussische und ukrainische Fakultät. Mama studierte in der Zeit auch da. Und sie lernte so meinen Vater kennen, weil sie in einer Parteiorganisation waren.
  18. Nach dem Uni-Abschluss kam der Vater 1936 nach Weißrussland und war Weißrussland-Korrespondent der polnischen kommunistischen Zeitung „Tribuna radezka“, die in Moskau erschien. Denn in Weißrussland gab es sehr viele Polen, insbesondere im Grenzgebiet.
  19. Da waren polnische Kolchosen und sogar ganze polnische Landkreise. (Feliks) Dserschinskij stammte aus der Gegend, damals wurde das alles begrüßt. Er kannte die Frau von Dserschinskij, Sofja Sigismudowna. Daher wurde ich Felix genannt.
  20. (Mein Vater) arbeitete als Korrespondent in Minsk, in der Zeitung wurden seine Artikel unter seinem Künstlernamen gedruckt. Später, Ende 1937, wurde die polnische kommunistische Partei verboten, sie wurde beschuldigt, Spionage zu betreiben und die Parteilinie verlassen zu haben.
  21. Die Zeitung wurde eingestellt und er wurde arbeitslos. Er erinnerte sich an seine Lehre und ging in der Schuhfabrik arbeiten. Ich habe seine Akte gesehen, da steht in den Dokumenten: „Arbeiter der Kaganowitsch-Schuhfabrik, Schuster.“ Anfang 1938 wurde er krank und kam ins Krankenhaus.
  22. Einmal kam die Pflegerin aus dem Krankenhaus, wir wohnten in der Nähe. „Genossin Lipskaja! Bei ihrem Mann wurde ein Wachposten aufgestellt.“ Ich habe hier Fotos, die ich 70 Jahre später bekommen habe. Das sind seine ersten Fotos im Gefängnis: Frontal und im Profil.
  23. Er wurde verhaftet und hatte Glück, er saß im Gefängnis. Denn fast alle damals Verhafteten wurden erschossen. Und er, wohl wegen seiner Verbindung zum polnischen ZK in Moskau, saß noch da.
  24. 1939 wurde er nach Moskau verlegt, das Gericht war im Mai 1939 in Moskau. Ich habe die Akten gesehen. Das war eine „Troika“, er bekam zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz. Das bedeutete praktisch ein Todesurteil, damals gab es aber eine Milderung.
  25. Er kam in die Krasnojarsk-Region und hielt sich da im Norden auf, wo das Norilsker Kombinat war: schreckliche Bedingungen und Dauerfrostboden.
  26. Danach kam er irgendwohin in den Süden. Er hatte Überlebenserfahrungen aus dem Gefängnis in Polen. Er schrieb Briefe an Mama und fand die Gelegenheit, sie an sie zu schicken.
  27. Dabei wandte er sich an die Komintern usw. Mama war einmal auf Dienstreise in Moskau und wurde von Dimitrow empfangen, dem Komintern-Leiter. Er sagte: „Wir können nichts machen, wir sind nicht im eigenen Land.“ Das einzige, (was ging): Sie schickte ihm Fotos, aufgenommen kurz vor dem Krieg im Mai 1941.
  28. Und er konnte sie aufbewahren. Im Lager gab es viele begabte Leute. Für eine Tabakration wurde ihm eine Bleistiftzeichnung von diesem Foto gemacht. Und noch ein Aquarell, ich habe es mitgebracht. Er konnte sie uns dann schicken.
  29. Er hatte Glück, in dem… Wir kamen 1945 nach Moskau, der Krieg war noch im Gange. In Moskau war das polnische Komitee und Mama kam dahin. Ich war fast sieben, mir blieben viele Leute da in Erinnerung. Sie stürmten auf sie zu: „Rosatschka!“, das ist Polnisch. „Und wo ist Kuba?“ – so wird Jakow auf Polnisch genannt. Sein Parteiname war Max. Und wir hatten damals schon Briefe von ihm.
  30. Es kam ein Brief, so wurde er gefunden, Mama sagte: „Er ist da.“ Sie suchten nach alten Kommunisten, Kadern für das neue Polen und erzwangen seine Befreiung. Ich weiß noch, wie er nach Minsk kam. Ich hatte in dieser Zeit schon einen Stiefvater. Das ist noch eine Linie in der Geschichte. Ihm war verboten, in 47 Städten zu wohnen – Großstädten und Gebietszentren, die im Krieg besetzt gewesen waren.
  31. Er wohnte eine Zeitlang bei einer Verwandten bei Minsk. Dann kam er nach Moskau und wurde da neu vorbereitet und dann nach Polen geschickt. Er bat Mama mitzukommen. Er konnte sich ja nicht weigern, er war Kommunist und hätte ausgebürgert werden können. So ging er dahin und arbeitete im polnischen Sicherheitsdienst, er war ja „Terrorist“.
  32. Und er arbeitete dort und suchte nach den Verrätern, die während des Krieges mit den Deutschen kollaboriert hatten. Er hatte auch eine (neue) Familie, zwei Brüder (von mir). Ich halte Kontakt zu ihnen, sie leben in Dänemark. Er ging als Oberst in Rente. Als 1968 die antisemitische Welle kam, wanderte er nach Dänemark aus. Ich habe ihn da getroffen. Ich habe erfahren, dass er zwei Schwestern in Lodz hatte.
  33. Vor vier Jahren traf ich zufällig die Leute von den jüdischen Organisationen in Lodz. Sie fanden die Dokumente über das Schicksal seiner Schwestern. Er wusste, dass sie umgekommen waren, aber wo und wie? Und ich habe erfahren, dass er noch eine Cousine hatte. Sie kamen im Ghetto in Lodz um.