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Ich habe nie meine Nationalität verborgen. Ich fand: Juden sind genauso Menschen wie alle anderen, daher verbarg ich es nie. Das Verhältnis zu mir auf der Arbeit war stets gut, ich persönlich spürte keinen Antisemitismus.
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Der Antisemitismus kam vom Staat und auf der Arbeit war das Verhältnis gut. Der Direktor des Schulinternats, wo ich schon als Rentnerin arbeitete… Wenn er übrigens die Wahl hatte – ein Russe oder ein Jude, stellte er den Juden ein.
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Denn die Juden sorgten für bessere Disziplin und arbeiteten gewissenhaft. Daher ging es mir gut, ich spürte nichts. Wir gingen da weg, weil es in Mode gekommen war. Außerdem verlor meine Tochter ihre Arbeit, das Rechenzentrum wurde geschlossen.
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Wissen Sie, ich ging eben wegen meiner Tochter. Und was bedeutet für mich Judentum? Ich denke, wir sind Menschen wie alle anderen auch. Und Jesus haben wir nicht getötet.
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Ich hatte russische und verschiedene andere Freunde. Wir machten keinen Unterschied – Jude oder Russe. Ich hatte sogar mehr russische Freundinnen als jüdische. Es war mir nicht bewusst, aber es war so.
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Und seit wann bin ich stolz auf meine Nationalität? Seit der 9. Klasse. Wir hatten eine Mitschülerin, Shenja Gitina. Sie brachte mal eine Zeitschrift mit, es war 1948. In der Zeitschrift war ein Gedicht von Margarita Aliger veröffentlicht. Ich glaube, es heißt „Die Stimme des Blutes“.
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In ihrem Gedicht spricht sie viele große Juden an, der einzige damals noch Lebende war Ilja Ehrenburg. Und er schrieb eine Antwort auf ihr Gedicht. Ich lernte diese Gedichte in der neunten Klasse auswendig.
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Übrigens, als ich die Gedichte auswendig lernte, begriff ich… Dass alle Juden vernichtet wurden, war lange ein Tabu. Wir in der Sowjetunion wussten es lange nicht. Wesentlich mehr darüber als dort erfuhren wir erst in Deutschland.
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Ich machte damals keinen Unterschied zwischen Juden und Russen. Meine Tochter hat einen Russen geheiratet, mein Enkel eine Ukrainerin. In unserer Familie gab es keinen Nationalismus, auch wenn der Vater immer betete. Er bewahrte seinen Tallit auf von dem Tag an, als er ihn zum ersten Mal angezogen hatte. Er nahm ihn mit in die Evakuierung, auch zurück nach Kasatin und nach Odessa.
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. Er zog den Tallit an und die Kapseln auf den Kopf, sie heißen Tefillin. Er bewahrte das alles auf. Nach seinem Tod nahm sie mein Bruder mit und gab sie wohl in der Gemeinde ab, ich weiß es nicht mehr.
An jedem Gedenktag der Mama, der Schwester und des Stiefbruders zog er immer den Tallit an und las ein Gebet. Zweimal jährlich – an ihrem Geburts- und Todestag.