Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Karäer haben ihre eigene ganz unglaubliche Geschichte. Sie waren acht Jahrhunderte lang… Im Zuge der Völkerwanderung von Osten nach West kamen sie auf die Krim. Später, als die Petschenegen und Kumanen abgezogen waren, wurde die Krim türkisch.
  2. Und die folgenden acht Jahrhunderte waren sie als Leute mit jüdischem Glauben in einer Felsenstadt eingeschlossen. Das war eine Höhlenstadt über Bachtschissaraj. Bachtschissaraj war die Hauptstadt der Krimtataren.
  3. Die Karäer waren hervorragende Handwerker: Goldstickerinnen, Schmiede, Gerber und Juweliere. Sie stiegen täglich vom Berg hinab zur Arbeit in Bachtschissaraj. Sie hatten da Läden, Werkstätten usw. Und jeden Abend stiegen sie auf den Berg.
  4. Ich war mal da und das ist körperlich sehr anstrengend: Steile Pfade führen über Vorsprünge nach oben, die täglich bewältigt werden mussten. Die Frauen blieben einfach oben, sie stiegen in der Regel nicht hinab. Da gab es keine eigene Wasserversorgung, nur Quellwasser und Brunnen.
  5. Dieses unglaublich harte Leben dauerte über Jahrhunderte, bis die Krim an Russland angeschlossen wurde. Das geschah unter Katharina der Großen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Karäer regelten dann alles mit den anderen zahlreichen Völkern und wurden rechtlich gleichgestellt.
  6. Und sie erhielten sogar mehrere Privilegien: Sie durften Handel treiben, ein Handwerk ausüben, studieren und als Soldaten Karriere machen. Sie verließen natürlich allmählich ihre Felsenstadt. Ihre ersten neuen Wohnorte waren Jewpatorija und Sewastopol.
  7. Meine Ahnen mütterlicherseits lebten in Jewpatorija. Mein Großvater hieß Moissej Kara, Kara heißt auf Tatarisch und Karaimisch schwarz. Er heiratete eine junge Frau, meine Oma, ihr Nachname war Karakos. Das bedeutet schwarzes Auge. Sie hieß Akbike, auf Tatarisch heißt es weißer Knochen.
  8. Sie wollten sich dann ein Leben in Odessa aufbauen. Odessa war wesentlicher größer und eine vielversprechende Stadt, sie zogen dahin. Sie hatten keine Bildung, sie hatten reiche Verwandte, die aber irgendwie nicht da waren.
  9. So mussten sie sich selbst ein Leben aufbauen. Er war Kleinhändler, kaufte Vieh, trieb es nach Odessa und verkaufte es dort. Er schaffte es aber nicht, ein Vermögen zu bilden. Er wurde krank; heute können wir sagen, er war herzkrank. Und er starb mit 44.
  10. Er wurde 1860 geboren und starb 1904. Seine Lebensdaten stimmen überein mit denen von Tschechow, auch 44 Lebensjahre. Er starb allerdings an Herzinsuffizienz und ließ meine Großmutter mit fünf Kindern zurück.
  11. Der älteste Sohn hatte damals schon das Gymnasium absolviert und beabsichtigte zu studieren. Und die anderen waren jünger. Die Familie hatte vier Söhne und ein Mädchen, meine Mutter.
  12. In den karäischen Familien war es üblich, unverheiratete Frauen nicht im Stich zu lassen, sie lebten bei einem der Familienangehörigen. In der Familie meiner Oma lebte ihre ledige Schwester. Der Grund, warum die Karäer ausgestorben sind, ist:
  13. Sie hatten sehr strenge Ehegesetze, man versuchte, Familien nur in karäischer Umgebung zu gründen. Aus vielen Gründen klappte das nicht so gut, und es gab sehr viele ledige Männer und Frauen. Das führte eigentlich zum Aussterben.
  14. Also, da war noch Omas Schwester, Tante Stira. Sie zogen die Kinder zusammen groß. Welche Beschäftigung konnten die Frauen vor der Revolution haben?
  15. Das konnte nur Handarbeit sein. In Odessa befand sich die Verwaltung der Schwarzmeer-Handelsflotte, die sogenannte „Gesellschaft Rapid“. Die beiden meldeten sich da und suchten Arbeit.
  16. Und sie bekamen eine Handarbeit: Nach Hause wurden kolossale Mengen von Leintuch gebracht, sie schnitten es zu und fertigten Bettwäsche, Tücher und Tischdecken daraus. Dann wurden sie mit der Nähmaschine versäumt.
  17. Und die ganze Familie… Die Frauen mussten ja noch den Haushalt führen und die Kinder ernähren. Heute können wir uns nicht vorstellen, wie sie damals lebten: Wäsche und alles andere wurde per Hand gemacht.
  18. Ich denke, die Oma sprach mit ihrer Schwester Karaimisch. Das ist nicht ganz dasselbe, steht aber der Sprache der Krimtataren am nächsten. Und alle Kinder gingen zur Schule, lebten im Hof, und in jedem Haus gab es auch ein russischsprachiges Milieu. So sprachen sie natürlich auch Russisch.
  19. Als der Großvater starb, war der älteste Sohn Jakow 20 und er war Student an der „Neurussischen“ Universität in Odessa, so hieß es damals. Denn diese Gegend, erobert unter Katharina der Großen, wurde „Neurussland“ genannt.
  20. Er studierte an der Uni. Er war ein brillanter Schüler, absolvierte das Gymnasium mit Auszeichnung und war auch ein hervorragender Student.
  21. Und er ging denselben Weg wie mein Vater, den er damals noch nicht kannte. Er gab auch Nachhilfe, Studenten konnten nur so Geld verdienen.
  22. Nach dem Uni-Abschluss in Odessa entschied er, das sei ihm zu wenig. Er hatte Chemie studiert. Er zog dann nach Petersburg und wurde wieder Student.
  23. In Petersburg gab es das renommierte Institut für chemische Technologien. Er wurde dort immatrikuliert. Die anderen Brüder studierten auch, waren aber nicht so gut.