Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Was die Blockade anbelangt: Ich war natürlich viel jünger (als Julia), drei Jahre. An die Blockade kann ich mich nicht besonders erinnern. Aber ich stehe in einem etwas anderen Verhältnis zur Blockade. Meine Mutter arbeitete als Ärztin in Leningrad, sie hieß Bella Iljinitschna Trojnowskaja.
  2. Mein Vater arbeitete als Chemieingenieur. Als der Krieg ausgebrochen war, wurde sein Werk in den Ural evakuiert. Er sagte zur Mutter: „Denke nicht daran, hier zu bleiben. Wenn alle aus Leningrad flüchten, alle Fabriken, Werke und die Verwaltung, heißt das, dass es schlecht enden wird.
  3. Leningrad wird möglicherweise aufgegeben, denn alles wird aus Leningrad evakuiert, auch die ganze Verwaltung. Es bleiben nur alte Leute, Kinder und noch jemand. Praktisch alle verlassen Leningrad.“ Deswegen brachte er uns im September oder Oktober (1941) heraus. Wir fuhren in einem Wagen mit den Chemieanlagen.
  4. Zuerst wurde ihm vorgeschlagen, die Familie da zu lassen, sie käme später zu ihm. Er meinte: „Nein, das geht nicht.“ Er war Oberingenieur und sagte: „Ich nehme die Familie mit.“ Und er durfte uns mitnehmen: mich, meinen älteren Bruder und die Frau Bella. Er hieß Solomon Michajlowitsch Shenkman.
  5. Er brachte alle in den Ural, nach Krasnouralsk. Dort wurde er nach etwa zwei Monaten eingezogen. Er konnte sehr schlecht sehen, ein Auge war beinahe blind wegen einer Kindheitsverletzung. Trotzdem wurde er eingezogen, und er diente wohl in einer Chemietruppe. 1942 oder 1943 ist er gefallen.
  6. Wir erhielten ein Schreiben – vermisst; offensichtlich fiel er. An Kriegsgefangenschaft dachten wir nicht – ein Jude… Meine Eltern waren Juden, von welcher Kriegsgefangenschaft konnte da die Rede sein? Sofortige Erschießung und das war es. Seine ganze Familie lebte in Kamenez-Podolsk.
  7. Ich kannte sie nicht, weder den Großvater noch die Großmutter noch die Tante. Ganz zufällig fand ich dieses Foto. Sie alle kamen um. Wie das war, ist schwer zu sagen. In Kamenez-Podolsk konnte keiner überleben. Da waren mindestens 60 oder 70 Verwandte von mir, und keiner… Sogar nach dem Krieg erhielten wir keinen Brief.
  8. Alle verschwanden, als ob es sie nie gegeben hätte. Hier auf dem Foto sind meine Großeltern, die ich nie sah. Sie waren Handwerker. Und die mütterlicherseits waren Ärzte, eine intelligentere Familie. Ehrlich gesagt, ohne Revolution wären sie sich nicht begegnet.
  9. Das waren zwei verschiedene Schichten: erstens Ärzte, Intelligenzija und Ingenieure, und zweitens eine Arbeiterfamilie. Und dann trafen sie sich 1933. 1935 wurde mein Bruder geboren, und sie zogen nach Leningrad und setzten ihre Arbeit dort fort.
  10. Man schreibt, die Juden hätten angeblich nicht gekämpft. Väterlicher- und mütterlicherseits sind alle Männer gefallen: zwei Brüder der Mutter und drei oder vier Brüder des Vaters. Sie alle kämpften und sind gefallen. Wer schreibt nur, sie hätten nicht gekämpft? Kein einziger kam zurück.
  11. Nach dem Krieg hatte ich keinen Onkel mehr. Und Sie wissen, vor dem Krieg hatte man als Jude Hunderte Onkel verschiedenen Grades. Ich hatte keinen mehr, als ob ich im Waisenhaus gewesen wäre. Meine Mutter hieß Trojnowskaja, sie nahm den Namen meines Vaters Shenkman nicht an. Trojnowskaja mutet polnisch und nicht jüdisch an, vielleicht deswegen.