Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Mutter arbeitete als Ärztin in einem Kindergarten und noch irgendwo. Dann begann das Jahr 1950, die „Ärzteverschwörung“. Ihr wurde gekündigt und sie saß auf den Koffern. Man sprach über eine Reise irgendwohin in den Norden, nach Sibirien: „In der Ärzteverschwörung wird weiter ermittelt.“ Ich weiß noch, wie wir auf den Koffern und gepackten Sachen saßen und auf die Abreise warteten: „Dort wird es besser sein – Norden, Schnee, da ist es schön…“
  2. Und plötzlich durfte sie bleiben. Sie war zwei oder drei Monate ohne Arbeit und nach Stalins Tod setzte sie ihre Arbeit fort. Und ich trat in ihre Fußstapfen, ich bin ebenfalls Arzt. Als ich die Schule beendete, sagte man mir: „Du wirst nie Medizin studieren können. Denn die Quote für Juden ist sehr klein.“
  3. Ich wurde aber zum Studium aufgenommen, wenn auch nicht gleich. Ich studierte zuerst Chemie, dann Medizin und absolvierte das medizinische Institut. Man kann sagen, ich verbrachte auch mein ganzes Leben in Leningrad. Nur dreieinhalb Jahre lebte ich nahe bei Kostroma. Nach dem Studium wurde ich dahin zur Arbeit geschickt.
  4. Ich arbeitete dort als Psychiater im regionalen Psychiatrie-Krankenhaus. Dann kehrte ich nach Leningrad zurück und konnte als Psychiater keine Stelle finden. Ich wurde stets daran erinnert, dass ich ein Moisey Solomonowitsch bin: „Du hast da nichts zu suchen.“
  5. Ich arbeitete als Neuropathologe und lange als Notarzt. Die letzten acht Jahre war ich als Psychotherapeut in einem Diagnostikzentrum in Petersburg bzw. Leningrad tätig. Ein Diagnostikzentrum galt als das höchste Niveau in der Medizin. Im Laufe meines Lebens versuchte ich, in die Wissenschaft zu gehen oder mich mit anderen Sachen zu beschäftigen.
  6. Es wurde aber immer betont, ich sei Moisey Solomonowitsch, und es war schwer, wissen Sie? Dann hatte ich einen Sohn und eine Familie. Mein Leben lang arbeitete ich auf anderthalb oder zwei Stellen gleichzeitig. Das Geld war zu knapp, ich konnte mir nie ein Auto kaufen und nur schwer eine Wohnung finanzieren.
  7. Also, Ärzte hatten mickrige Gehälter. Sogar als Notarzt und Psychotherapeut verdiente ich nur Groschen. Die Ärzte zählten nichts. Ein Frisör aber schon, auch ein Koch oder ein Arbeiter – eben die Diktatur des Proletariats. Ein Arzt zählte nichts, genauso wie Pädagogen und Lehrer. Ihre Gehälter waren so gering, dass sie sich nicht ernähren konnten.