Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich wurde am 20. Juni 1936 in Kriwoj Rog, Ukraine, geboren. Meine Mutter arbeitete in der Fabrik „Zahnbürste“, da wurden wirklich Zahnbürsten produziert. Mein Vater war Kürschner. Am 20. Juni 1941 hatte ich Geburtstag, ich wurde 5 Jahre alt. Ich kann mich etwas daran erinnern, weil gleich danach, am 22. Juni, der Krieg ausbrach.
  2. Ich weiß noch, es wurden Schützengräben ausgehoben und im Rundfunk, das war so ein Teller, wurde gewarnt: „Bürger! Luftalarm!“ Wir verließen dann verängstigt unser Haus.
  3. Täglich wurden Mitteilungen des Sowjetischen Informbüros gesendet und die aufgegebenen Städte und Orte genannt. Die deutsche Armee rückte sehr schnell vor.
  4. Wir hatten unheimliche Angst. Ich war die Älteste, meine Schwester war kaum 2 Jahre alt. Meine Mutter war schwanger. Wir hatten natürlich nicht vor wegzufahren. Unsere Lage war so, wo konnten wir hinfahren?
  5. Die Fabrik- und Betriebsmitarbeiter wurden organisiert evakuiert. Wir hatten diese Möglichkeit nicht. Und noch ein wichtiger Moment: Alle sagten: „Warum fahrt ihr fort? Die Deutschen sind eine zivilisierte Nation.“
  6. Mein Onkel, ein Cousin meiner Mutter, war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen. Er sagte: „Ich war in Gefangenschaft, sie behandelten mich sehr gut. Wozu diese Panik, wieso?“ Es kursierten aber auch sehr beunruhigende Gerüchte. Wir versuchten, ihnen nicht zu glauben; Schlechtes will man nicht wahrhaben.
  7. Bei jedem Luftalarm liefen wir heraus, versteckten uns und kamen ins Haus zurück. Mancherorts brannte es, die Bomben kamen runter. Die Angst war natürlich allgegenwärtig. Mein Onkel blieb mit seiner Familie da und sie kamen dann ums Leben.
  8. Noch ein wichtiger Grund, warum wir nicht fortfahren konnten: Wir hatten kein Geld. Wie alle lebten wir vom Lohn. Mein Vater sollte seinen Lohn und das Urlaubsgeld erhalten.
  9. Sein Betriebsleiter versicherte ihm: „Bald ist das Geld da…“ Dann begriffen wir, er hatte das Geld unterschlagen und war früh weg. Wir hatten kein Geld mehr.
  10. Dann wurde das Gerücht verbreitet: Für schwangere Frauen sei es gefährlich zu bleiben, die Deutschen würden ihnen den Bauch aufschlitzen. Das war natürlich der letzte Tropfen.
  11. Wir packten, ich weiß noch, wie mein Vater gute Sachen in Säcke steckte. Wir warfen die Säcke in den Keller, wir hofften, bald zurückzukommen. Wir deponierten sie da und schlossen ab.
  12. Wir zogen unsere Kleidung an, das war bereits im August. Was konnten wir schon mitnehmen, wir gingen ja zu Fuß. Wir gingen zur Station außerhalb der Stadt. Mein Vater ging mit, er wurde wegen seines schlechten Sehvermögens nicht einberufen.
  13. ch schleppte etwas mit, auch meine schwangere Mutter. Wir waren: ich und meine Schwester, meine Eltern, meine Tante mit ihrem Sohn.
  14. Und noch eine Tante mit zwei Söhnen, sie war die Frau des Bruders der Mutter. Der Bruder war bereits an der Front.