Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Nach unserer Evakuierung war eine Tante von mir in der Stadt zurück geblieben, Tante Riwwa. Ihr Mann diente in der Armee und seine Einheit war in Kasatin stationiert. Sie wollte den Mann nicht verlassen und blieb da.
  2. Kurz vor dem Krieg kam mein Cousin aus Odessa in die Ferien nach Kasatin. Er wohnte bei dieser Tante. Wir alle wurden evakuiert und er blieb bei der Tante.
  3. Die Tante hatte einen jungen Nachbarn namens Kolja. Als den Juden befohlen wurde, in der Kommandantur zu erscheinen, gingen die Tante und der Onkel nicht hin und Sascha auch nicht – so hieß der Cousin.
  4. Dann kam der Nachbar Kolja, er war Polizist bei den Deutschen, und führte alle drei ab in die Kommandantur. Sie wurden ins Ghetto geschickt. Das Ghetto in Kasatin befand sich hinter der Eisenbahnbrücke.
  5. Die Brücke teilte die Stadt in zwei Teile: das Wohngebiet und das Eisenbahngelände. Hinter der Brücke wohnten meistens die Eisenbahner, das war aber ein großer Stadtteil.
  6. Irgendwo da wurde das Ghetto eingerichtet, wohin alle Juden kamen. Sascha war zusammen mit der Tante und dem Onkel in diesem Ghetto. Da befanden sich viele Leute, alle nicht evakuierten Juden.
  7. Eines Tages, als die Erschießungen begannen, versteckten sich Sascha und noch ein Junge namens Brawerman im Keller, jeder für sich. Nachdem alle erschossen worden waren, kamen die Deutschen ins Gebäude und fragten, ob da noch Juden seien.
  8. Da waren noch wenige Leute – Schneider und Schuster, die die Sachen der Deutschen reparierten. Ein russischer Polizist öffnete die Kellerklappe und rief: „Juden, kommt heraus! Ich werde schießen.“ Keiner antwortete, er feuerte einige Schüsse ab in den Keller und machte die Klappe zu.
  9. In der Nacht öffneten die Juden, die noch lebten, den Keller, Sascha kam heraus und dann auch Brawerman. Die anderen gaben ihnen ihre Brotration und sagten: „Verschwindet, wir können euch nicht mehr helfen.“
  10. Sascha und der andere fuhren getrennt mit Güterzügen weg, egal wohin. Sascha wollte nach Odessa, denn er stammte aus Odessa. Er kam dahin und hatte Angst, in seiner Straße zu erscheinen – seine Nachbarn und die Freunde hätten ihn erkennen können.
  11. So ging er in ein Dorf und kam bei einem Bauern unter. Der fragte: „Wo sind deine Eltern?“ Er sagte: „Wir wurden mit dem Zug evakuiert…“ Er sagte nicht, dass er aus Odessa kommt. „Wir wurden evakuiert, der Zug wurde bombardiert, alle kamen um und ich überlebte.
  12. Ich muss irgendwo wohnen.“ Er hatte absolut nichts dabei. Der Bauer nahm ihn auf und er arbeitete da. Der (Bauer) gab ihm wenig, aber immerhin etwas zu essen. Eines Tages sagte der Bauer: „Hör zu, bist du zufällig Jude?“ Er sagte: „Nein.“ Er sah nicht jüdisch aus, eher russisch, er hatte blondes Haar.
  13. „Und warum nennst du nachts jüdische Namen?“ Er rief seine Brüder im Schlaf – Ljowa und Sjusja. Er sagte dann: „Das sind ja meine Freunde. Ich hatte in Odessa nicht nur russische Freunde, sondern auch jüdische. Ich habe sie wohl gerufen.“
  14. Er begriff aber: Der Bauer schöpft Verdacht. Und er beschloss weg zu gehen. Eines Nachts packte er seine Sachen und ging in ein anderes Dorf. Er war übrigens nach jüdischer Sitte beschnitten, das konnte man leicht überprüfen.
  15. Also, er ging in ein anderes Dorf. In diesen drei Jahren war er in mehreren Dörfern, wohl wegen des aufkommenden Verdachtes. Er ging dann sofort in einen anderen Ort.
  16. Am 10.4.1944 wurde Odessa befreit, er wollte hin, um sich umzuschauen, sie hatten ein Haus da. Das Haus hat den Krieg überstanden, ich war später zu Besuch in ihrem Haus.
  17. Und noch während des Krieges kam er einmal nach Odessa. Er ging durch die Stadt und sah sich dabei ein Schaufenster an. Und im Geschäft stand dieser Brawerman, er war auch nach Odessa durchgekommen.
  18. Sie sahen sich und lächelten. Sascha dachte: „Vielleicht wird der observiert, ich muss verschwinden.“ Er verschwand und traf diesen jungen Mann nicht mehr.
  19. Er wusste nicht, was ihm passierte. Der war hübsch und interessant, vielleicht kam er irgendwo unter. Also, nach der Befreiung kam Sascha nach Odessa und wollte die Gospitalnaja-Straße sehen, wo ihr Haus war.
  20. Er sah dann einen Pferdewagen fahren, darauf saß ein Kerl. Er folgte dem Pferdewagen, der Kohle transportierte. Er ging hinterher und der Kutscher schaute mal nach hinten und dachte: „Warum folgt der mir? Warum geht er nicht auf dem Asphalt, sondern auf der Fahrbahn?“
  21. Schließlich hielt er an… Ja, der Pferdewagen bog in die Gospitalnaja-Straße ab. Da kam Sascha zu ihm und sagte: „Sagen Sie, sind sie nicht Ljowa Lewitis?“ Der sagte: „Ja.“ So trafen sich die Brüder in Odessa nach dem Krieg wieder.
  22. Also, das ist eine Geschichte aus Odessa. Und die Tante und der Onkel kamen um, dort überlebte natürlich kein einziger Jude. Die Schneider und Schuster wurden später auch erschossen.