Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wir entschieden, ihre Dokumente im Polytechnischen Institut einzureichen, wo ich früher mal studieren wollte. Damit man meine Tochter nicht durchfallen lässt – sie heißt Frendlina – musste ich in die Sprechstunde des Institutsrektors gehen.
  2. Ich kam in die Sprechstunde und wurde gefragt: „Welcher Anlass?“ Ich sagte: „Es geht um die Arbeit“, sonst wäre ich zu ihm nicht durchgelassen worden. Ihm sagte ich: „Ich komme nicht wegen der Arbeit, sondern wegen meiner Tochter.
  3. Sie hat das Abitur nur mit einer Zwei in Physik gemacht. Sie nimmt am Pilotprojekt teil.“ Damals gab es ein Pilotprojekt für Abiturienten: Wer außer Einsen nur zwei Zweien im Zeugnis hatte, musste nur zwei Aufnahmeprüfungen bestehen – Physik und Mathe.
  4. Er sagte: „Aber warum? Wenn sie gute Noten hat und so begabt ist, müssen Sie nicht zu mir kommen.“ Ich sagte: „Ich sage es Ihnen. Das kam schon vor, als sie die Prüfungen in der Musikschule machte. Ich wollte vorher zu Ihnen kommen, damit ihr Namen nicht gleich mit einem Häkchen versehen wird.“
  5. Also, ich kam zu ihm und sagte: „Meine Tochter wurde in der Musikschule nicht aufgenommen. Man sagte mir, ich hätte mich vorher melden sollen. Daher komme ich vorher zu Ihnen.“
  6. Er hat beim Prorektor Korytin angerufen und fragte: „Welche Möglichkeiten haben wir an der Fakultät für Automatik und Rechenmaschinen?“ Der sagte ihm wohl: „Es gibt noch freie Plätze für Juden“, ich habe es so verstanden.
  7. Er sagte dann: „Reichen Sie die Dokumente ein.“ Wir taten es und kamen dann zur ersten Aufnahmeprüfung, Mathe schriftlich. Ich sagte der Tochter: „Unterzeichne jedes Blatt und nummeriere sie durch. Und notiere alles, was du sagst.“ Sie tat es auch so. Sie antwortete auf alles richtig und bekam zusätzliche Mathe-Fragen.
  8. Sie sagte: „Ich werde auf alles schriftlich antworten.“ Sie beantwortete diese Fragen und bekam eine Eins in Mathe, das war nicht leicht. Die anderen kamen schon heraus, meine Tochter war aber noch drin. Ich machte mir Sorgen: „Kinder, da sitzt ein Mädchen im blauen Kleid…“ – „Sie schreibt eine Dissertation!“
  9. Dann machte sie die Physik(-Prüfung) und antwortete auf alles wieder schriftlich. Sie bekam zusätzliche Fragen und beantwortete auch sie richtig. So bekam sie zwei Einser für Physik und Mathe.
  10. Die Lehrerin hatte uns gesagt: „Ihr wird eine Eins und eine Zwei für Physik reichen. Denn eine Eins für Physik bekommt bei uns keiner.“ Und sie erhielt zwei Einser! Wir gaben das Prüfungszeugnis ab und jemand sagte: „Wie? Auch eine Eins für Physik?
  11. Sonst bekommt keiner eine Eins für Physik.“ Ich sagte: „Ich habe sie speziell darauf vorbereitet.“ Und sie wurde Studentin am Polytechnischen Institut, obwohl man die Juden durchfallen ließ. Sie wurde aber bei der Aufnahme so wie sonst keiner gequält.
  12. Sie machte einen Hochschulabschluss, wie wir es geplant hatten. Die Musik begleitet aber ihr ganzes Leben. Sie singt und spielt liebend gerne.
  13. Nach der Ankunft in Deutschland sagte sie als Erstes: „Mama, ich brauche…“ Und ich kaufte ihr ein Keyboard und sie spielte darauf und sang.
  14. Das aber nur nebenbei. Sie hat während des Studiums geheiratet, ein Jahr später kam unser Enkel auf die Welt. Ich erlaubte ihr nicht das Institut zu verlassen, ich übernahm dann alle Aufgaben.
  15. Ich arbeitete und passte vormittags auf das Baby auf. Nachmittags kam sie aus dem Institut, war mit dem Kind zusammen und ich ging arbeiten.