Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Familie des Vaters war eine gewöhnliche bürgerliche Intelligenzija-Familie. Die Eltern waren ziemlich kultivierte Menschen. Z.B. reicht es zu sagen: Mein Vater wurde in Westweißrussland geboren und konnte seit der Kindheit mindestens fünf Fremdsprachen.
  2. Im Alltag sprach man in den jüdischen Familien Jiddisch, das ist eines. In den kultivierten Familien war Russisch üblich, das zweitens. Das war Westweißrussland, es war sozusagen polnisch, das Land gehörte Fürst Radziwill.
  3. Die Jungen sprachen also Polnisch; d.h. er konnte auch Polnisch, das drittens. Und natürlich Weißrussisch, da es in Weißrussland war, das viertens.
  4. Die deutsche Sprache ist dem Jiddischen nahe. Das Hebräische wurde in der religiösen Schule unterrichtet, die alle jüdischen Kinder besuchten; das ist die sechste Sprache.
  5. Vaters Familie war… Er hatte zwei Brüder. Der Vater war der Älteste, geboren 1888. Drei Jahre jünger war der Bruder Noj, genannt nach dem biblischen Noah. Er war ein sehr begabter Mensch, aber kein besonders guter und fleißiger Schüler.
  6. Der Vater absolvierte die Schule mit der Goldmedaille. Ich werde sie Ihnen zeigen. Im zaristischen Russland durfte er sich als Abiturient mit Goldmedaille im Rahmen der Fünf-Prozent-Quote an jeder Hochschule immatrikulieren. Und er ging auf das Polytechnische Institut in Petersburg.
  7. Der mittlere Bruder Noj Saulowitsch war ein sehr begabter Mensch, bekam aber keine Goldmedaille nach dem Mittelschulabschluss. Damals war das Bildungssystem nach deutschem Vorbild aufgebaut: Es gab Gymnasien und Realschulen, wo Mathe und technische Fächer überwogen.
  8. Er war ein durchschnittlicher Schüler und konnte sich nicht in Russland immatrikulieren, im Rahmen der Fünf-Prozent-Quote. Und die Eltern schickten ihn zum Studium nach Deutschland.
  9. Er studierte an der Universität in Halle. Zunächst ging er auf die philosophische Fakultät. Die Eltern fanden aber, Philosophie könne eine Familie nicht ernähren, das sei kein Männerberuf. Daher studierte er gleichzeitig Philosophie und Medizin und bekam dann das Arztdiplom an der Uni zu Halle.
  10. Allerdings war sein Diplom im Russischen Reich nicht anerkannt – genauso wie heute hier russische Diplome. Es musste in Russland anerkannt werden lassen. Er tat es im estnischen Tartu, so heißt es heute.
  11. Da war eine große Uni mit einer medizinischen Fakultät. Er machte dort nochmals die Examina und bekam das Diplom, das in Russland anerkannt war. Er hatte aber kein besonderes Interesse an Medizin und ging nach Riga arbeiten.
  12. Er hatte ein Faible für Politik, für die Sozialdemokratie. Er wurde ein prominenter Politiker in Lettland, als Sozialdemokrat. Er war Chefredakteur der wichtigsten sozialdemokratischen Zeitung in Riga.
  13. Bereits sozusagen im reifen Alter, etwa 40 Jahre alt, begriff er, dass ihm die Jura-Ausbildung fehlt. Und er immatrikulierte sich an der Uni zu Riga, absolvierte das Studium und bekam das Jura-Diplom. Er war der Meinung, er bräuchte es für seine Tätigkeit als Zeitungsredakteur und Politiker.
  14. Der jüngste Bruder Lasar… Seine Jugend verlief bereits nahe am Bürgerkrieg. Er wurde von der allgemeinen Revolutionsbegeisterung usw. erfasst. Er war näher dran und nahm als Junge an der Revolution teil, ihm gefiel das sehr.
  15. Später wurde er wie viele andere solider und absolvierte das Institut für Bauwesen in Moskau. Heute sind das alles Unis, damals hießen sie in Russland Institute.
  16. Er trat in Russland der Partei bei und war dann sozusagen ein bedeutender Funktionär in der Bauindustrie und ein ziemlich wichtiger Beamter im sowjetischen Bauministerium. Er leitete eine Abteilung im Ministerium.
  17. An diesen Beispielen erkennt man genau, wie der Faden des gleichmäßigen stabilen Lebens des vorletzten Jahrhunderts gerissen ist. Damals lebte man noch Jahrzehnte und Jahrhunderte an einem Ort, es gab Großfamilien, die Kinder lebten nicht weit weg von ihren Eltern und alles war patriarchalisch.
  18. Das Beispiel dieser Familie zeigt, wie drei Brüder vollkommen unterschiedlich wurden und verschiedene Wege gingen. Auch ihr Lebensende war unterschiedlich.
  19. Der älteste Bruder, mein Vater Boris, entschied sich für Wissenschaft und Technik. Er beschäftigte sich mit der wissenschaftlichen Arbeit und unterrichtete später. Er war kein besonders religiöser Mensch. Seine Eltern versuchten ihn zum Judaika-Studium zu bewegen, damit er Rabbiner wird.
  20. Er weigerte sich aber, er wollte diesen Weg nicht gehen. Er ging auf das Polytechnische Institut und suchte sich einen nicht-religiösen Weg aus. In unserer Familie gab es keine religiösen Traditionen, aber die Erinnerungen an Feste. Ihnen wurde keine religiöse, sondern eher eine nationale Bedeutung beigemessen.
  21. Pessach, Purim und andere Feste wurden eher nicht als religiöse Feste gefeiert, sondern als nationale Feste, die das ganze jüdische Volk sozusagen vereinigen.