Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich habe zwei Kinder. Die Tochter studierte Pharmazie. Kaum war es möglich auszuwandern… Sie war schon verheiratet, hatte ein Kind. Und sie reisten nach Israel aus. Sie leben auch heute in Israel und haben zwei Kinder.
  2. Jetzt warten wir auf den Besuch unserer jüngeren Enkelin. Sie war schon im letzten Jahr da und war im Sommerlager bei der Synagoge. Mein Sohn absolvierte das Polytechnische Institut.
  3. Wie hieß seine Fakultät? Für IT-Technologien oder so ähnlich. Es ging um Computer, für die er sich schon als Schüler interessierte. Er hatte immer eine Neigung dazu. Er wanderte früher (als ich) nach Deutschland aus.
  4. Er besuchte Deutschkurse und machte dann eine einjährige Computerausbildung bei Siemens. Ich fragte: „Was bringt dir so ein Kurs?“ Er sagte: „Das Kursniveau ist natürlich wesentlich schlechter als das, was wir studiert haben. Dafür gibt es ein Papier mit einem deutschen Stempel drauf.
  5. Und die russischen Diplome haben hier keinen Wert. Der Kurs mag schwach sein, aber man bekommt ein Papier dafür.“ Und mit dem Papier bekam er eine Arbeit und arbeitet Gott sei dank erfolgreich seit zehn Jahren. Er gilt als guter PC-Programmierer und arbeitet bei guten Firmen. Ich finde, er arbeitet erfolgreich. Bei ihm ist alles in Ordnung.
  6. Ich wollte noch die Frage der Übersiedlung nach Deutschland ansprechen. Es ist klar: Die Tochter war in Israel und der Sohn in Deutschland. Es stellte sich die Frage: Wohin? Da alleine zu bleiben machte für uns keinen Sinn.
  7. Der Sohn lebte damals alleine und die Tochter hatte eine eigene Familie. Uns schien es besser, zum Sohn zu gehen, um ihn zu unterstützen. Und er ist der Jüngere, er könnte vielleicht auch uns unterstützen.
  8. Ich will darauf hinaus: Noch vor zehn Jahren… Ich denke, heute gibt es so eine Stimmung in der russischen Gesellschaft nicht mehr. Heute versuchen alle, die es können, ins Ausland zu entwischen.
  9. Allerdings kehren einige zurück, die sich im Ausland nicht zurechtgefunden haben, und sie finden sich dann da zurecht. Wenn ich die Einwanderer betrachte, die Erfolgreichen oder Erfolglosen, habe ich folgenden Eindruck: Ein aktiver und erfolgreicher Mensch ist überall erfolgreich.
  10. Wenn er einwandert, findet er sich im Ausland zurecht, er arbeitet erfolgreich und kommt weiter. Andererseits, wenn er so erfolgreich ist, wird er sich heute auch dort (in der Heimat) zurechtfinden und kommt auch dort weiter.
  11. Wenn ein Einwanderer hier nichts erreichen kann und erfolglos ist, so ist er halt so ein Mensch, hat so einen Charakter. Das liegt nicht daran, dass er nach Deutschland gekommen ist und in Amerika hätte er es besser gehabt.
  12. Alles hängt vom Menschen ab. Allerdings sind viele Schwierigkeiten der Einwanderer in Deutschland künstlich. Dabei ist die Rede von Fachleuten und von der Intelligenzija. Mein Sohn hat z.B. eine Green Card für Amerika bekommen. Und er fuhr da zu seinem Freund, um sich umzuschauen.
  13. Der sagte ihm: „Komm, ich stelle dich meinem Chef vor.“ Er kam und sprach mit dem Chef. Dann kamen sie (in den Arbeitsraum) zurück und der Chef sagte: „Hier ist der Tisch und der Computer ihres Freundes. Und hier ist noch ein Tisch und ein Computer, das wird Ihrer sein.
  14. Sie können morgen mit der Arbeit beginnen.“ Keiner stellte Fragen über das staatliche System der USA und über die Englischkenntnisse. Das zählt nicht, die Arbeit zählt: Du arbeitest, dann wirst du allmählich auch die Sprache beherrschen.
  15. Er wollte aber nicht in den USA arbeiten, Deutschland gefällt ihm besser, obwohl er die Sprache lernen musste. Ich finde, das sind künstliche Hindernisse, sie schaden nur. Wissen Sie, ich lebe schon seit zehn Jahren hier und nicht, weil das einfach Deutschland ist.
  16. Ich bin der Meinung: Ich lebe hier und das ist quasi mein Land. Denn Mama kommt von hier, sie träumte ihr ganzes Leben lang davon, Deutschland zu besuchen und es zu sehen. Sie konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen: „Wie konnten in so einem kultivierten Land Gräueltaten passieren?“
  17. Sie konnte es nicht glauben. Das ist so etwas wie zum Gedächtnis an sie: Ich lebe hier und sehe (das Land). Ich kann sagen: Viele Regeln und sozusagen Seiten der deutschen Lebensweise sind mir einfach nah und andere allerdings nicht so sehr. Aber was den Nutzen für das Land anbelangt, braucht das Land gute Fachleute und man muss nicht künstliche Hindernisse aufbauen.
  18. In der Synagoge gibt es den Arbeitskreis für Wissenschaft und Technik bei „Unser Heim“. Ehrlich gesagt, da versammeln sich meistens alte Menschen, zum großen Teil ehemalige Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter, die nach Deutschland eingewandert sind.
  19. Einige sind noch nicht ganz alt und könnten etwas tun. Dennoch sind sie alle arbeitslos. Der Kopf funktioniert aber noch, man will noch etwas machen. Wir halten diverse Vorträge für einander. Zu Beginn berichtete jeder über seine Arbeit, über das Gebiet, worin man sich auskennt. Dann waren alle im Zirkel schon mit ihren Vorträgen durch, und wir sagten: „Lassen Sie uns über Neuheiten und interessante Themen berichten.“
  20. Und ich gehe dahin und halte auch manchmal Vorträge. Ich bereite mich vor, recherchiere im Internet usw. Und die anderen auch. Man will an etwas teilhaben, an etwas Intellektuellem, wissen Sie, um nicht ganz zu versumpfen. Einen anderen Weg gibt es hier nicht. Leider.