Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich hatte eine interessante Episode im Leben, als ich als Angeklagter vor Gericht stand. Das war eine bemerkenswerte Episode.
  2. Das war ein interessanter Prozess, der im Auftrag (von oben) kam. In Russland gab es solche Prozesse. Soll ich das erzählen? Also dann eine kurze Vorgeschichte: Ich arbeitete im Betrieb „Elektronpribor“ und war damals Leiter der Fertigproduktionshalle.
  3. In der Halle waren über 400 Mitarbeiter; es gab eine Montage- und eine Prüfanlage, eine Schlossereiabteilung und eine Galvanikhalle, wo Leiterplatten produziert wurden usw.
  4. Und es war sehr verbreitet, dass Ingenieure und Arbeiter Rationalisierungsvorschläge machten oder Urheberzeugnisse beantragten. Ich als Hallenmeister musste das Formular unterschreiben, dass jene Rationalisierungen in der Produktion umgesetzt werden.
  5. Das ist die Präambel. Die zweite Präambel: Unsere Produktion beschäftigte sich mit Rechenmaschinen, d.h. baute diverse Geräte wie Rechner und PCs. Die ersten PCs wurden bei uns entwickelt.
  6. Und dazu Produktionsregler, Bauteile für computergesteuerte Maschinen usw. Um das alles bauen zu können, wurden moderne Bauelemente benötigt, z.B. Mikroprozessoren.
  7. Und das Ministerium für Elektronik vergab sie nur für den Eigenbedarf oder nur für die eigene Produktion; wir bekamen nichts. Daher richteten solche wichtigen Ministerien wie für Schiffsbau und für schweren Maschinenbau eine eigene Produktion für integrative Mikroprozessoren ein.
  8. Unser Direktor beschloss, dass wir auch unsere eigene Produktion für Mikroprozessoren einrichten sollen. Wir sollten spezielle integrative Mikroprozessoren für Geräte produzieren, die wir entwickeln.
  9. Sie sollten an die Werke geliefert werden, wo unsere Geräte in Serie gingen. Um so eine Produktion einzurichten, waren eine spezielle Halle und Hightech-Anlagen nötig, auch ein spezieller Werkzeugbaubereich und Fachleute auf dem Gebiet, Technologen usw.
  10. Das wichtigste waren die Anlagen, sie zu kriegen war in der Sowjetunion kaum möglich. Man musste im Ministerium und in diversen Ämtern bestechen oder Technologien klauen, Wirtschaftsspionage betreiben.
  11. Dafür war bares Geld vonnöten. Und damals gab es eine Methode, die in vielen Betrieben angewandt wurde. Wenn ein Rationalisierungsvorschlag kam, bekam dessen Autor ein Angebot: „Für deine Rationalisierungsmaßnahme werden 300 Rubel gezahlt.
  12. Wir berechnen dir 3.000, 300 oder sogar mehr kannst du behalten; (den Rest) musst du aber an eine Vertrauensperson abgeben.“ So entstand eine Sonder-Kasse, sie war im Safe von jemandem, der Gelder für Bestechungen, Geschenke usw. ausgab. So etwas wurde praktiziert.
  13. Irgendwann 1985 ordnete der zentrale Parteiapparat an: „Es gibt Missbrauchsfälle, wir müssen einige in ganz Russland spürbare Prozesse durchführen.“ So gab man den Auftrag, in Nowosibirsk, Leningrad und Kiew eine Überprüfung einzuleiten, jemanden zu erwischen und einen spektakulären Prozess zu machen.
  14. Und unsere Firma in Leningrad kam u.a. auf die Liste der zu Überprüfenden. Und natürlich wurden etwa 500 „Erfinder“ usw. gefunden und festgestellt, dass viel Geld für diese Dinge ausgegeben worden war.
  15. Und eine Gruppe – der Generaldirektor, der leitende Ingenieur, der Chef des Büros für Rationalisierung und einige Leiter der Fertigungshallen, ich und noch ein Jude, Jurij Gelimsson… Also, wir waren unter denjenigen, die zunächst von der Staatsanwaltschaft verhört wurden.
  16. Danach wurden die Akten zum Gericht geschickt. Es gab ein interessantes Detail: Wenn jemand vor Gericht angeklagt wurde, durfte er kein Parteimitglied mehr sein. Und ich war eines, wie die Übrigen auch.
  17. So musste ich aus der Partei ausgeschlossen werden. Ich dachte nach, wie ich das vermeiden könnte, denn ich wollte ja bei all dem nicht ins Gefängnis kommen. Ich wollte weiter arbeiten. Ich begriff den Mechanismus, der im Statut verankert war.
  18. So konnte ich erreichen, dass ich der erste Jude in der Sowjetunion war, der auf die Anklagebank kam und Parteimitglied blieb – genauso wie meine (Mitangeklagten). Also, wir waren die ersten.
  19. Da passierten unglaubliche Szenen, als wir den Staatsanwalt während der Sitzung fragten, ob wir zur Parteiversammlung gehen dürfen. Er lief dann zum ersten Parteisekretär der Stadt: „Wie geht das? Wir klagen sie ja an!“ usw. Das war komisch.
  20. In dem Prozess fühlte ich mich irgendwie wohl. Dabei wurden manche Angeklagten, z.B. der Generaldirektor und der leitende Ingenieur, einer Sache beschuldigt, auf die die Todesstrafe stand. Es ging um eine sehr massive Veruntreuung.
  21. Davon erfuhr ich erst da, denn ich hatte damit nichts zu tun gehabt. Der Generaldirektor wandte sich dann an seinen Minister Skobordnja, der später Geschäftsführer bei Gorbatschow war. Er sagte ihm: „So eine Sache…“
  22. Der beauftragte die Sonderabteilung, die Sache zu klären. Kurz gesagt, der Generaldirektor wurde zu einem Gespräch auf die Insel Seliger eingeladen, wo er zu Tode kam. Die Verhöre in der Staatsanwaltschaft verliefen so, dass der leitende Technologe sich auf seiner Datscha erhängte.
  23. Der Chef des Büros für Rationalisierung wurde wegen angeblicher Fluchtgefahr ins Gefängnis zusammen mit Homosexuellen gesteckt. Er wurde dort schikaniert, damit er ein Geständnis ablegte.
  24. Also, die Lage war so. Ich fühlte mich aber sehr wohl. In der Staatsanwaltschaft verhielt ich mich so, dass mein Untersuchungsrichter, ein junger Kerl, zu seiner Chefin lief: „Margarita Fjodorowna, ich werde aus der Partei ausgeschlossen, denn ich handle widerrechtlich.
  25. Er macht mir klar, dass er absolut recht hat, aber wir müssen ihn repressieren! Er hat recht in allen Beziehungen.“ Kurz gesagt, als der Prozess im Stadtgericht begann, war Wladimir Jaroslawzew der Richter. Nach Gründung des ersten russischen Verfassungsgerichtes wurde er aus Leningrad dorthin delegiert.
  26. Er ist immer noch Verfassungsrichter. Die Gruppe der Angeklagten wählte mich irgendwie zum Sprecher, damit ich unser Verhalten vor Gericht bestimme und koordiniere. Ich stellte gewisse Bedingungen: „Nach der Beratung fassen wir einen Entschluss und alle müssen sich an eine bestimmte Linie halten.“
  27. Kurz gesagt, der Prozess lief einige Jahre und war so, dass ich während des Prozesses nach Baikonur reisen durfte und mich sehr wohl fühlte. Der Prozess endete so: Er wurde eingestellt wegen Ermangelung eines Tatbestandes. Und ich hatte dann gute Beziehungen zu Jaroslawzew, habe ihm zu seiner Ernennung gratuliert usw.
  28. Und er sagte: „So einen Prozess gab es noch nie. Ich sah zum ersten Mal auf der Anklagebank keine Kriminellen, sondern sehr interessante, geachtete Leute, die kenntnisreich sind usw.“ Das war ein sehr interessanter Prozess in meinem Leben.