Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Verwandten waren in Riga geblieben: die Tante mit zwei Söhnen und einer Tochter. Denn der Jüngste war schon in die Armee einberufen, er fiel bei Moskau.
  2. Ein Sohn wurde erschossen, am zweiten Besatzungstag. Aber nicht von den Deutschen, sondern von den Letten. Sie zwangen ihn, die Straße zu kehren, er weigerte sich und wurde auf der Stelle erschossen.
  3. So kamen sie ins Ghetto: zwei Brüder, die Schwester in meinem Alter und die Tante. Ich kenne Einzelheiten über dieses Ghetto, denn der älteste Cousin, der das alles durchmachte und überlebte, schrieb seine Erinnerungen auf.
  4. Sie wurden in einer Moskauer Zeitschrift veröffentlicht. Darüber zu erzählen, fällt aber schwer. Ich kann nur sagen, dass sie später getrennt waren.
  5. Die Männer wurden ins KZ getrieben, um da zu arbeiten. Wobei diese fünf Söhne sportlich und gesund waren, sie waren ein Fußballteam. Und sie hatten sehr gute Sprachkenntnisse, jeder konnte mindestens drei Sprachen.
  6. Der älteste Bruder war sehr beherrscht und ruhig. Der dritte Bruder, der… Der zweite kam mit seiner Frau nach Leningrad. Der dritte und vierte blieben in Riga. Der vierte wurde erschossen.
  7. Der dritte, ich meine vom Alter her, kam auch ins Arbeitsghetto. Der fünfte fiel 1942 bei Naro-Fominsk, bei Moskau. Was sie erleben mussten, ist schwer nachzuerzählen.
  8. Mein dritter Cousin arbeitete als Dolmetscher im Hafen von Riga. Er übersetzte Dokumente und dolmetschte ins Niederländische, Deutsche, Russische, Englische, Französische und Tschechische, in alle Sprachen.
  9. Sein Chef hatte zu ihm gesagt: „Ich nehme dich mit.“ Er tat das aber nicht, floh dann alleine und mein Bruder blieb da. Deswegen fuhren sie alle nicht weg, sie warteten, dass ihnen jemand half.
  10. Der älteste Bruder studierte Medizin und wurde zur Arbeit mobilisiert im Hospital auf dem anderen Düna-Ufer. Ihm gelang, im letzten Moment die Brücke zu passieren und zur Mutter zu kommen.
  11. Sie konnten aber nicht mehr weg, alle Züge waren abgefahren. So blieben sie da und kamen ins Ghetto. Da ging es so zu wie in allen Ghettos.
  12. Von Vorteil war natürlich, dass meine Tante und alle (Geschwister) fließend Deutsch konnten. Das war ein gewisser Vorteil, denn sie verstanden, was man von ihnen wollte. Wer nichts verstand, wurde sofort erschossen.
  13. Wie schon gesagt, später waren sie getrennt. Wenn ich mich nicht irre, wurden sie im Oktober 1943 im Rumbala-Wald erschossen, alle Arbeitsunfähigen. Vorher mussten sie sich ausziehen und ihre Sachen ordentlich zusammenlegen. Erschossen.
  14. Als die Brüder von der Arbeit zurückkamen, merkten sie, dass das Ghetto kleiner wurde. Allerdings wurden dann die deutschen und ungarischen Juden ins Ghetto gebracht. D.h., das Ghetto in Riga war eine Durchgangsstation.
  15. Als ein Prozess gegen die lettischen Faschistenhelfer in Riga stattfand… Mein Cousin schrieb darüber. Auch einige Deutsche kamen da vor Gericht. Sie sagten, die Lage sei dort geeigneter gewesen, die Letten hätten diese Arbeit sehr gut gemacht.
  16. Der zweitjüngste Bruder versuchte dann, der schweren Arbeit zu entgehen, ließ sich etwas einfallen. Er nahm die Armbinde ab und besuchte seine lettischen Freunde in der Stadt.
  17. Einmal war ein deutscher Major da, er wohnte da. Sie sprachen miteinander, und als er ging, sagte der Major: „Was für ein intelligenter Lette.“ Er sah einfach nicht jüdisch aus.
  18. Danach kam es so, dass die Cousins getrennt wurden. Mein ältester Cousin sah den anderen nie wieder. Später machte er eine Anfrage beim Roten Kreuz und erhielt eine Auskunft über sich selbst, von dem anderen kein Wort.
  19. Allerdings gab es eine Geschichte: Der andere Cousin entzog sich mal der Arbeit, er tat so, als ob er sich zur Abfahrt verspätet hätte.
  20. Und ein Offizier im Ghetto… Ansonsten kommandierten die Gefreiten da. Er sagte: „Ich erschieße ihn gleich.“ Er führte ihn dann schon ab und traf einen anderen. Der sagte: „Lass uns Bier trinken.“ Sie gingen zurück, er (der Cousin) ging mit.
  21. Sie schalteten das Radio ein, da lief eine englische Sendung. Sie fragten ihn: „Verstehst du das?“ Er sagte ja. Das hatte ihm das Leben gerettet, er wurde nicht erschossen, er übersetzte dann für sie.
  22. Später war mein ältester Cousin… Zwei Wochen vor der Befreiung wurden sie abtransportiert. Der Transport war ein Horror, ich lasse das weg. Sie kamen ins KZ Stutthof. Später wurde er nach Buchenwald gebracht.
  23. In Buchenwald waren Arbeitskräfte nötig für die Polte-Werke in Magdeburg. Ich weiß nicht, was für Werke das waren, mein Cousin schrieb das.
  24. Der Lagerkommandant sagte allerdings: „Ihr kommt herein und über den Kamin heraus.“ Sie hatten aber Glück, sie kamen in die KZ-Filiale nach Magdeburg und arbeiteten da. Da arbeiteten auch junge Jüdinnen aus Ungarn, sie kamen über das Ghetto in Riga dahin.
  25. Sie wurden aus Ungarn ins Ghetto transportiert, kahl geschoren und kamen zur Arbeit in dieses Werk. Danach befreiten die Amerikaner meinen Cousin. Er bekam das Angebot, in der amerikanischen Zone zu bleiben.
  26. Er hoffte aber, seine Brüder zu finden. Er fuhr in die Sowjetunion, das Jahr davor verbrachte er in Hospitälern, seine Gesundheit war ruiniert. Der zweite Cousin, der mit seiner Frau nach Leningrad gekommen war, wurde in die lettische Division mobilisiert.
  27. Ihnen wurde aber misstraut. Zu den Letten – kein Vertrauen, das war eiserne Logik. Er musste Holz fällen, erlitt Erfrierungen und kam ins Hospital. Danach wurde er als Bauarbeiter beim Bau der Befestigungen eingesetzt. Dann war ein Gefangener da und er sprang als Dolmetscher ein und nahm nun diesen Weg.
  28. Am Kriegsende war er im sowjetischen Hauptquartier in Wien. Wäre sein Bruder nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekommen, hätte er da weiter dienen können. Als sein Bruder zurückkehrte, wurde er gleich gefeuert: „Ihr Bruder war in Gefangenschaft.“
  29. Die Frau des zweiten Cousins – wegen ihr war er nach Leningrad gekommen – bekam ein Kind. Zum Füttern war nichts da. In Riga lebte man aber wie im Westen. Sie hatte einige Sachen dabei, sie tauschte sie gegen 1 kg Reis.
  30. Sie machte eine Brühe und fütterte so das neugeborene Kind. Es starb natürlich, später starb sie auch. Als mein Cousin nach der Entlassung zurückkam, besuchte er uns in Leningrad.
  31. Er sagte zu meiner Mutter: „Warum hast du sie nicht gerettet?“ Er hatte keine Ahnung, was in Leningrad los war. Das wollte ich erzählen. Mein Cousin kehrte nach der Entlassung nach Riga zurück. Studieren war für ihn schon zu spät, er wurde 1913 geboren.
  32. Wie konnte er 1945 noch studieren? Er wurde Übersetzer und übersetzte lettische Literatur ins Russische. Alle lettischen Schriftsteller wurden von ihm übersetzt. Und der Älteste, der im KZ war, studierte doch Medizin weiter und war dann ein ausgezeichneter Internist und Diagnostiker.