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Mein Vater war schon vor dem Krieg nicht mehr im wehrpflichtigen Alter. D.h. er wurde nicht eingezogen. Jedoch durften die Männer bis 55 Leningrad nicht verlassen. Man dachte, sie könnten beim Bau der Verteidigungslinien mitarbeiten: Schützengräben ausheben und Sperren einbauen.
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Später hielt man das für einen Fehler, denn sie waren überflüssige Esser und nicht zu gebrauchen, da sie sehr entkräftet waren. Sie blieben aber da. Daher blieb auch mein Vater, er konnte nicht weg. Als das 1942 klar wurde, versuchte man, die Stadt von überflüssigen Leuten zu befreien und sie zu evakuieren.
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Die Evakuierung verlief über die „Straße des Lebens“ durch den Ladogasee. Die Lastwagen waren damals im Gegensatz zu heute ganz klein, sie wurden „Gasik“ oder „Polutorka“ genannt – „Anderthalb-Tonner“. Meistens waren es diese kleinen Lastwagen.
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Die deutsche Luftwaffe bombardierte diese Straße, da sie gut zu sehen war. Die Bomben durchbrachen das Eis und es entstanden „Trichter“. Sie füllten sich dann mit Eisschollen. Tagsüber waren sie zu sehen, man versuchte aber nachts zu fahren, wenn die Luftangriffsgefahr geringer war.
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Nachts waren diese „Trichter“ nicht zu sehen. Daher versanken einige Lastwagen. Die Fahrer fuhren mit geöffneter Tür, um herausspringen zu können. Wer aber auf der Ladefläche saß, schaffte das nicht und ging unter.
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Der Lastwagen, mit dem mein Vater und ich fuhren, hatte Glück und kam durch. Wir versanken nicht und wurden nicht bombardiert. Wir kamen auf das andere Ladogasee-Ufer. Da wurden „Erholungsheime“ eingerichtet, so wurden sie damals genannt.
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Tatsächlich waren das medizinische Stellen für ausgezehrte „Blockade-Leute“, wo sie etwas aufgepäppelt werden konnten. Denn sie waren völlig entkräftet. Und dort wurden die Evakuierten aus Leningrad für zwei bis drei Wochen untergebracht.
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Aber leider… Ich weiß nicht, vielleicht waren die Bedingungen so oder die medizinische Versorgung noch nicht gut genug – aber sehr viele starben dort. Sie starben da nicht an zu wenig, sondern an zu viel Essen. Denn sich nach so einer Hungerszeit auf das Essen zu stürzen, das war auch tödlich und sehr gefährlich.
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Und es gab diesen Fall: Mein Vater reiste mit einer Reisetasche ab und noch mit einem Köfferchen. Wir standen dann auf einem Gleis, ohne zu wissen wohin mit uns. Denn wir wollten nicht ins „Erholungsheim“, sondern dahin kommen, wo die Mama war. Und sie war im Ural, in der kleinen Stadt Krasnokamsk.
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Sie liegt bei Perm, damals Molotow. Heute wieder Perm. Krasnokamsk war zuvor bedeutungslos und während der Krieges gewann es an Bedeutung: Da wurde Öl entdeckt und gefördert. Da waren Rüstungsbetriebe, dort wurde Sprengstoff usw. hergestellt. Also, sie kam dorthin.
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Wir standen dann am Bahnhof, ein Mann kam auf uns zu, nahm das Köfferchen und ging weg, ohne ein Wort zu sagen. Keiner konnte ihn aufhalten, denn wir hatten keine Kraft, ihn zu halten oder zu verfolgen: „Nun, er nahm es mit.“ In dieser Zeit kamen zwei Militärs auf uns zu. Es war wundersam. Der Vater war Hochschullehrer und hielt Vorlesungen usw.
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Einer der Militärs erkannte ihn wieder: „Sind Sie es? Sind Sie Maisel? Was machen Sie hier? „ – „Ich bin aus Leningrad heraus.“ – „Und wo ist Ihre Familie?“ – „Sie ist da und da.“ Der sagte: „Im Erholungsheim werden Sie umkommen. Sie müssen zu Ihrer Familie fahren.“ Aber wie konnten wir das? Während des Krieges konnte man nicht beliebig mit dem Zug fahren. Man konnte nicht einfach eine Fahrkarte lösen und losfahren.
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Man brauchte eine Dienstreisebescheinigung oder Fahrgenehmigung. Alles war kriegsbedingt reglementiert. Der Militär war Bahnhofskommandant und sagte dann: „Gleich hält ein Schnellzug, der direkt nach Molotow fährt. Ich lasse Sie einsteigen, am nächsten Tag werden Sie bei Ihrer Familie sein.“ Er rettete (uns) das Leben.
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Der Vater quälte sich dann lange Zeit und versuchte, sich an den Mann zu erinnern. Er hatte den Offizier nicht nach seinem Namen gefragt. Er hatte uns ja das Leben gerettet. Vater sagte: „Ich weiß nicht, wem ich danken soll.“ Und das quälte ihn lange Jahre.