Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mein Vater interessierte sich für Politik genauso sehr wie viele andere. Er hatte überhaupt viele Interessen. Die Familie lebte in St. Petersburg und war nicht nur von der jüdischen, sondern auch von der russischen Kultur geprägt.
  2. Daher interessierte er sich für alles im Leben. Als er jung war, spielte sich die Revolution in St. Petersburg ab. Der Vater nahm an diversen Versammlungen teil, er hörte die Reden von Lenin, Trotzki, Kautsky und anderen.
  3. Er erzählte, dass Lenin kein hervorragender Redner gewesen sei. Der sprach eher wie ein Wissenschaftler, der präzise Erklärungen abgab, aber nicht die Massen entflammen konnte. Wenn man die Masse begeistert wollte, wurde Trotzki gerufen.
  4. Was die politischen Ansichten meines Vaters anbelangt, war er kein Anhänger der kommunistischen Ideologie und des Bolschewismus. Allerdings kämpfte er auch nicht dagegen. Er war schlicht Beobachter, der sich die Ideologie aber nicht verinnerlichte.
  5. Mein Vater war nie Parteimitglied. Ich war nicht einmal Komsomolze, obwohl alle in unserer Zeit dem Komsomol beitraten. Ich war der einzige Nichtkomsomolze in meiner Klasse. Auch als Student war ich wahrscheinlich der einzige Nichtkomsomolze in meinem Studienjahr. Vorgreifend kann man das Jahr 1956 erwähnen…
  6. …als Chruschtschow Stalin entlarvte. Es gab eine geheime Rede, die zunächst nicht veröffentlicht wurde. Sie wurde aber in den Partei- und Komsomolversammlungen vorgelesen. Und ich war der einzige Nichtkomsomolze. Vor der Versammlung sagte ich: „Ich bin kein Komsomolze, erlauben Sie mir aber zuzuhören.“ Der Sekretär der Parteiorganisation schaute mich so an und sagte: „Geh!“