Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Schwierigkeiten begannen etwa im Oktober und wurden lawinenartig immer größer. Im Oktober ging es den Bach runter, im November, kann man sagen, begann die Hungersnot. Während des Krieges wurden für alle Lebensmittel Karten eingeführt.
  2. Brot konnte man nur für den jeweiligen Tag bekommen, der da drauf stand, und für den nächsten Tag. Rückwirkend wurde kein Brot ausgegeben. Die Karten wurden keinesfalls ersetzt – egal, ob sie verloren gingen, weggenommen wurden oder verbrannten. Das Leben ohne Karten bedeutete den Tod.
  3. Es gab verschiedene Lebensmittelkarten – z.B. für arbeitende Personen. Sie unterschieden sich vor allem durch die Größe der Brotration. Und es gab noch die so genannten „Karten für zu unterhaltende Personen“ und für Kinder. Und warum gab es da kleine 10-Gramm-Felder? Jedes Mal, wenn man einen Teller Suppe in der Kantine nahm, wurde so ein Kartenfeld herausgeschnitten.
  4. Jedoch recht bald, nach der Vernichtung der Lebensmittelvorräte, wurden die Karten Makulatur. Denn für sie wurden praktisch keine Lebensmittel ausgegeben, außer Brot. Nur Brot war real zu bekommen und auch das war…
  5. Es ist allgemein bekannt, was „Blockade-Brot“ war. Zu Hälfte bestand es aus Sägemehl und der Rest waren Ersatzstoffe, auch Holzleim. Unter diesen Umständen war der Verlust der Brotkarten eigentlich tödlich. Daher hielt man die Karten ganz fest in der Faust.
  6. Und was rettete uns das Leben? Denn die Leute starben, man kann sagen, wie die Fliegen, mit den Rationen konnte man nicht überleben. Das ist allgemein bekannt, über die Blockade wurde viel gesagt und geschrieben. Und es ist nicht nötig, das alles zu wiederholen.
  7. Meinem Vater gelang es, unsere Karten in einer Kantine verwertbar zu machen. Lebensmittel mitzunehmen war da unmöglich. Aber man bekam einmal täglich ein Mittagessen. Das musste man mit speziellem Essgeschirr holen. Es bestand aus drei Teilen und wurde übereinander gesteckt: Suppe, Hauptgericht und Kompott.
  8. Wir gaben die Karten in der Kantine ab und einmal täglich… Das war immerhin mehr als nur Brot. Die Suppe war natürlich minderwertig, keine echte Suppe. Aber immerhin besser als nichts. Das ermöglichte irgendwie mühsam zu überleben.
  9. Die erste Blockadezeit wohnten mein Vater und ich zu Hause, bis der Frost kam. Während der Luftangriffe gingen wir nicht mehr in den Luftschutzraum, denn Alarm gab es ständig und es war einfach unmöglich. Ich weiß noch: Eine Bombe schlug gegenüber unserem Haus ein. Unsere Bekannten saßen gerade auf Stühlen und flogen dann zu Boden. Unser Haus blieb aber unversehrt.
  10. Nachdem der Frost eingesetzt hatte, wohnten wir nicht mehr zu Hause, sondern bei Mamas Verwandten. Denn es gab kein Brennholz zum Heizen, man heizte mit Büchern oder Möbeln. Man musste auch einen kleinen Ofen besorgen, der „Burschujka“ hieß, und das Rohr zum Fenster führen. So versammelte man sich, und wir wohnten zusammen.
  11. Es war nur möglich, ein einziges Zimmer ein wenig zu wärmen, und da wohnten alle. Sonst erfror man. Daher wohnten wir bei den Verwandten – bei Mamas Tante und ihrem Mann, da wohnten mehrere Verwandte.
  12. Man muss sagen, über Hungersnot und Kälte in der Blockade wurde viel geschrieben und Vieles davon ist bekannt. Sich daran zu erinnern, fällt natürlich schwer. Ich war zwar Kind, Kindheitserinnerungen prägen sich aber in die Seele ein. Sie bleiben da das ganze Leben.
  13. Wissen Sie, das kann man nicht vergessen. Ich rede nicht von den Empfindungen wie Kälte, Hunger und anderen elementaren Sachen. Wenn du aber der Straße entlang gehst, wo Leichen herumliegen, kannst du das auch nicht vergessen. Sie waren im Schnee festgefroren. Und man hatte zu wenig Kraft…
  14. … Sie wurden eingesammelt, aber nicht gleich und nicht immer. Oder wenn du ins Brotgeschäft kommst… Damals sagte man nicht Bäckerei, denn Gebäck klang sehr kapitalistisch. Eben Brot.
  15. Und man hielt die Karten fest in der Faust. Wenn jemand die Karte wegriss und davon lief, war das eine Tragödie. Vor allem am Monatsanfang bedeutete dies Tod. Man hütete die Karte wie seinen Augapfel.
  16. Es gab auch solche Fälle: Einer steht in der Warteschlange und bekommt dann ein kleines Stück Brot. In diesem Moment kommt einer von der Seite und reißt ihm das Brot aus den Händen. Und läuft nicht davon, er ist schwach. Er bleibt an der Theke stehen und versucht, so schnell wie möglich das Brot in den Mund zu schieben.
  17. Die Menge stürzt sich auf ihn, man versucht ihn zu packen und zu schlagen, während er versucht, das Brot schnell zu essen. Er läuft nicht davon. Wer kann ihn aber schlagen? Die Leute sind entkräftet, darauf wurde spekuliert.
  18. (Jetzt) muss keiner von uns hungern, danach gab es keinen Hunger mehr. Eine Brotrinde kann ich aber auch heute nicht wegwerfen.
  19. Man muss noch sagen: Später, als die Luftangriffe und der Beschuss regelmäßig kamen, ging keiner mehr in die Luftschutzräume.
  20. Die Leute gewöhnten sich daran genauso wie an die Schilder: „Diese Straßenseite ist bei Beschuss besonders gefährlich.“
  21. Rings um unser Haus, z.B. in unserem Viertel, blieb keine Hausecke unversehrt, an allen Kreuzungen kamen Bomben herunter. An der nächsten Kreuzung schlug so eine große Bombe ein, wohl 20 Zentner schwer, so dass drei Häuser zerstört wurden.
  22. Nur eine alte Kirche stand noch da, aber die Häuser waren zerstört. Und man gewöhnte sich daran und betrachtete es als Glückssache.