Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich wurde am 26. Juli 1930 in Leningrad geboren und war das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater kam nach Petrograd – das Jahr kenne ich nicht – aus Daugavpils, wo seine Familie lebte.
  2. Die Familie war sehr wohlhabend. Mein Großvater, den ich nie sah, war im Forstwesen tätig. Meine Mutter wurde in Riga geboren, wo sie aufwuchs.
  3. Natürlich waren beide Familien kinderreich, wie damals üblich. Meine Mutter kam aus Riga in der Zeit, als die Hindenburg-Truppen in Riga einmarschierten, also 1918.
  4. Meine Mutter kam nach Sowjetrussland, weil es keine Arbeit in Riga gab. In Petrograd kam sie am Baltischen Bahnhof an und stieg in Lackschuhen aus.
  5. Sie konnte kaum weiter gehen wegen des hohen Schnees und der russischen Schimpfwörter. Sie war geschockt, ihr blieb aber nichts anderes übrig als weiterzufahren.
  6. Sie kam zu ihrer ältesten Schwester, die damals vier Söhne hatte. Sie lebten in Petrograd, früher St. Petersburg, in der Rubinstein-Straße im Stadtzentrum.
  7. Warum sind Ihre Eltern aus Lettland nach Petrograd gegangen? – Weil das Baltikum damals von den deutschen Truppen besetzt war. Und Russland propagierte, dass das Leben da sehr gut sei.
  8. Es gab keine Arbeit, es gab verschiedene Probleme. Mein Großvater väterlicherseits kam zu dieser Zeit um oder starb, das weiß ich nicht. Der Vater meiner Mutter lebte noch, aber das war eine arme Familie, sie konnte keine Hilfe leisten.
  9. Deswegen beschlossen sie jeder für sich, nach Russland zu gehen. Und der nächstliegende Bahnhof war der Baltische Bahnhof im damaligen Petrograd.
  10. Man muss ergänzen, dass mein Vater mit seiner ganzen Familie nach Petrograd kam. Und ein Bruder und eine Schwester meiner Mutter – sie waren zu viert – kamen getrennt, aber auch nach Petrograd. So war die ganze Familie da zusammen, bis die älteste Schwester mit den Kindern zurück nach Riga fuhr.
  11. Mama fand keine Arbeit in Petrograd. Aber sie hatte eine andere Beschäftigung, sie half ihrer Schwester, die vier Kinder großzuziehen.
  12. Der Mann meiner Tante hatte eine kleine Fabrik und sie waren gut versorgt. Nach der Revolution zogen oft betrunkene Matrosen durch die Wohnungen und plünderten; das konnte keiner gutheißen.
  13. Die Familie meiner Tante beschloss (daher), nach Riga zurückzukehren. Von ihrer Rückkehr erfuhr ich von dem ältesten Sohn, dem einzigen Überlebenden.
  14. Als Lettland unabhängig wurde, lebten meine Mutter und ihre Schwester in verschiedenen Staaten. Die sowjetische Regierung interessierte sich später sehr für diejenigen, die Verwandte im Ausland hatten.
  15. Um 1932 wurde meine Mutter zur NKWD-Zentrale vorgeladen, die die Ordnung aufrechterhielt und alle Bürger kontrollierte. Das war bereits in Leningrad, im sogenannten „großen Haus“. Man machte Witze, von da aus sei alles zu sehen.
  16. Mein Vater riet der Mutter mich mitzunehmen. Meine Mutter erzählte mir, das hätte sie vor der Verhaftung gerettet. Denn ich war als Kind ungestüm, konnte da nicht lange sitzen, zerbrach mein Milchfläschchen und weinte.
  17. Es kam ein Untersuchungsrichter heraus und fragte, wessen Kind das sei. Meine Mutter sagte: „Meins“.
  18. Er sagte: „Wir schicken niemanden mit Kind ins Gefängnis“, sie durfte nach Hause gehen. Meine Mutter hatte sehr große Angst ausgestanden.