Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Heute denke ich: Die Prüfungen wurden gestrichen, weil die Kinder ab dem 15.05.1943 zu Arbeiten in der Landwirtschaft verschickt wurden.
  2. In unserer Klasse wurden aber sehr wenige ausgesucht, und ich war nicht darunter, denn ich war klein und mager. Meine Mutter war beim Schuldirektor und auf ihre Bitte hin wurde ich auch mitgenommen.
  3. Ich wog allerdings 28 kg und war eine schlechte Arbeiterin, vermutlich. Warum wollte die Mutter mich zur Arbeit schicken? Erstens: Da bekam man die Verpflegung für Arbeiter.
  4. Zweitens lag der Sowchos am Stadtrand, wo keine Häuser und Betriebe waren, dieser Stadtteil wurde nicht beschossen und bombardiert.
  5. Unser Sowchos befand sich an der Malaja Ochta. Heute gehört die Gegend ganz zur Stadt, da ist die Metrostation Ladoshskaja. Auf dem Gelände befindet sich eine Schmuckfabrik, die ich entwerfen sollte, das nur so nebenbei.
  6. Wir kamen also zur Arbeit, die Brigadeleiterin sagte mir, dass ich ordentlich jäten muss. Ich, ein Stadtmädchen, hatte keine Ahnung, wie Gemüse wächst, woher es kommt.
  7. Ich riss alles heraus. Die Brigadeleiterin war erschrocken und sagte: „Du hast ja die Kohlpflänzlinge gejätet!“ Sie zeigte mir, wie sie aussehen, danach jätete ich richtig und aß einige Pflänzlinge, weil sie nach Kohl schmeckten.
  8. Wir hatten eine Arbeitsnorm, die unbedingt erfüllt werden musste. Wir versuchten sogar sie zu übertreffen. Wenn es eine ganze Woche klappte, wurden wir mit einer Tasse Milch belohnt.
  9. Ich brachte diese Milch in einem Fläschchen mit zur Mutter, und wir tranken Tee mit Milch. Einmal in der Woche spätabends am Samstag fuhren wir nach Hause, um die Bettwäsche zu wechseln.
  10. Denn dort gab es nichts, wir wuschen das Gesicht am Wasserspender, das war alles. Wir wohnten in einer großen Baracke. Die kleinen Mädchen waren da mit den Schülerinnen aus der 10. Klasse zusammen, damit sie auf uns aufpassten.
  11. Wir alle erfüllten die Norm und, wie gesagt, übertrafen sie sogar. Wir arbeiteten vom 15.5. bis zum 15.10. Wir sammelten die Ernte ein, danach begann der Schulunterricht.
  12. Als die Arbeitszeit zur Hälfte vorbei war, wurden auch die Felder beschossen. Denn natürlich gelangten Spione über die Frontlinie hierher, die dann die Beschussziele vorgaben. Die Felder wurden nicht mit normalen Granaten beschossen, sondern mit Schrapnell.
  13. Schrapnell explodiert in der Luft und verletzt die Leute mit Splittern, es verursacht keine Zerstörungen. Die berühmten Duderhofer Höhen waren von den deutschen Truppen besetzt und die Faschisten schossen weiter heftig auf uns, nun auf unsere Felder.
  14. Die erste Zeit verließen wir die Felder nicht, da gab es Gräben zum Verstecken. Wir sagten: „Wir arbeiten weiter, um Hitler zu schaden.“ Dann wurde aber eine Frau getötet, wir mussten uns in den Splittergräben verstecken.
  15. So arbeiteten wir bis zum Herbst. In den fünf Monaten Arbeit sicherte ich meine Verpflegung und verdiente 16 kg Gemüse. Ich war natürlich sehr froh es zu bekommen. Am 27.11.1943 wurde mir die Medaille für die Verteidigung von Leningrad verliehen. Sie wurde an alle verliehen, die über 2 Monate in der Blockade gearbeitet hatten.
  16. Ich hatte fünf Monate gearbeitet. Ich war glücklich und lief nach Hause: „Mama! Mir wurde die Medaille für die Verteidigung von Leningrad verliehen!“ Die Mutter wurde auch ausgezeichnet, aber später. Sie guckte mich skeptisch an und sagte: „500 g Brot wären besser.“