Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Er (der Vater) wurde nicht eingezogen. Er wartete auf die Anordnung der Partei, wann er wegfahren darf. Als er die Erlaubnis bekam, fuhr er auch fort und wir trafen uns in Charkow.
  2. In Charkow hielten wir uns bei unseren Verwandten auf. Es wurde ständig bombardiert, und als die Deutschen wohl noch näher kamen, sahen alle zu, wie sie flüchten können. Wir wollten auch Charkow verlassen.
  3. Wir kamen nach Saratow und der Vater sagte: „Lasst uns aussteigen“. Er ging zum Komitee seiner Partei und wurde in die Kleinstadt Jerschowo im Gebiet Saratow geordert – als Direktor der „Verwaltung für Beschaffung tierischer Produkte“.
  4. So kamen wir an die relativ große Eisenbahnstation Jerschowo. Meine Schwester wurde gerade 18 und gegen Ende 1941 in die Armee eingezogen. Sie kämpfte an der Front. Heute lebt sie in Israel. Sie ist zwei Jahre älter, im Oktober wird sie 87. Die jungen Menschen waren damals sehr patriotisch.
  5. Ich beschloss dann: „Meine Schwester wurde eingezogen und warum ich nicht?“ Ich meldete mich zum Kurs für Krankenschwestern der Militärreserve. Nach sechs Monaten machte ich den Abschluss nur mit einer Zwei – für Hals-Nasen-Ohren-Kunde.
  6. Der Rest waren Einser. Ich wurde aber nicht eingezogen, da ich noch nicht 18 war; ich war eigentlich kaum 17. Und ich ging wieder zur Schule. Nach dem Krankenschwestern-Kurs arbeitete ich noch sechs Monate im Kinderkrankenhaus.
  7. Da waren sehr viele Kinder, besonders verbreitet war der Skorbut. Da lag vor meinen Augen ein Junge im Sterben, er war etwa vier und hatte Skorbut. Ich gab ihm viele Spritzen und wich nicht mehr von ihm. Dann kam sein Vater von der Front, er durfte sein krankes Kind besuchen.
  8. Er sagte uns: „Wenn ihr zulasst, dass das Kind stirbt, erschieße ich euch alle.“ Sogar so drohte er uns. Das Kind starb aber. Er erschoss uns natürlich nicht, das alles war aber sehr schwer – zu sehen, wie die Kinder sterben.
  9. Danach ging ich zur Schule – in die neunte und zehnte Klasse. In der neunten Klasse gab es noch Jungen und in der zehnten keine mehr, sie wurden eingezogen; nur Mädchen waren da. Ich wurde dort zur Sekretärin der Partei… nein, der Komsomolgruppe gewählt.
  10. Ich tat mich eigentlich nicht hervor, wurde aber irgendwie dauernd zur Sekretärin der Komsomol- und dann Parteigruppe gewählt. Ich weiß nicht warum, ich war vertrauenswürdig.
  11. Die Eisenbahnstation Jerschowo lag in der Nähe von Stalingrad. 1943 wurde dort erbittert gekämpft, und sehr viele Verwundete kamen zu uns nach Jerschowo. Es gab zu wenig medizinisches Personal, daher arbeiteten wir Mädchen bei der Aufnahme der Verwundeten mit.
  12. Wir notierten ihre Namen und legten eine Krankenkartei an. Ich war aber Krankenschwester, konnte gut Spritzen setzen und machte die erste Wundversorgung. Ich weiß noch wie heute: Ich öffnete den Verband und da wanden sich weiße Würmer.
  13. Ich säuberte das alles und legte einen neuen Verband an. So eine Hilfe leisteten wir gerade während der Schlacht um Stalingrad, da gab es sehr viele Verwundete.