Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Es kam das neue Jahr 1944. Die Ukraine war bereits befreit, und wir wollten heimkehren. Wir kamen nach Kiew, weil der Vater ohne seine Partei nichts entscheiden konnte. Man gab ihm acht Städte zur Wahl.
  2. Warum er sich für Cherson entschied, ist mir heute noch unklar. Uns nach Winniza zu bringen traute er sich wohl nicht, weil die Straße dahin noch beschossen wurde. Es war 1944, und es gab noch deutsche Luftangriffe.
  3. Er wählte Cherson, vielleicht weil man ihm sagte, dass die Wassermelonen dort lecker sind. Denn die leckersten Wassermelonen in der Ukraine waren die aus Cherson. Ehrlich gesagt, habe ich hier öfters Wassermelonen probiert und dabei gemeint: „Nein, die sind nicht aus Cherson.“
  4. Die Gegend da ist allgemein reich an Obst und Gemüse. So kamen wir nach Cherson, und ich dachte: „Vielleicht kehrt meine Freundin Raja aus der Evakuierung nach Odessa zurück. Cherson ist ja in der Nähe von Odessa, und wir werden zusammen studieren.“
  5. Es kam aber so, dass Raja viel später aus der Evakuierung zurückkehrte. Und ich hatte überhaupt kein Geld für die Fahrt, damals waren das Brot und alles andere rationiert. Vielleicht war ich einfach unentschieden. Die einzige Hochschule in Cherson war die Pädagogische.
  6. Ich denke: Vielleicht gibt es da oben eine Kraft, die das Leben des Menschen lenkt? Sie gibt ihm eine vorbestimmte Richtung. Denn als Kind spielte ich sehr gerne Lehrerin. Ich versammelte die Kinder und unterrichtete sie. Außerdem hatte ich einen Cousin, er war zwei Jahre jünger und bekam nur Fünfer.
  7. Ich gab ihm Nachhilfe, er schrieb Diktate, ich erklärte ihm Russisch und Mathe. Kurz gesagt, mir war wohl bestimmt, Lehrerin zu werden. Denn außer der Pädagogischen Hochschule gab es dort keine.
  8. In dieser Zeit wurde eine historische Fakultät neu eingerichtet. Unser Nachbar im Wohnheim hatte Geschichte studiert und er überredete mich und seine Tochter, auf die historische Fakultät zu gehen. So wurde ich Geschichtslehrerin.
  9. Wie haben wir gelernt? Wir hatten keinen Strom und nicht einmal einfache Petroleumlampen. Irgendetwas wurde mit Fett gefüllt, und man steckte einen Docht hinein, er brannte. Und im Winter wurde es sehr früh stockdunkel.
  10. Ich saß stundenlang, bis alle Hausaufgaben, u.a. in Mathe, fertig waren. Meine Nase und meine Ohren waren dann ganz verrußt. Mama schrie mich ewig an: „Genug mit dem Sitzen, geh schlafen!“ Ich war aber stur: Bevor alle Hausaufgaben fertig waren, ging ich nicht schlafen.