Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wir kamen zum Bahnhof, der bombardiert wurde. Mein Vater ging zur Kasse, alle Kassen waren geschlossen. Er ging zum Bahnhofsvorsteher und zeigte seine Papiere: „Ich muss innerhalb von 24 Stunden beim Kriegskommissariat in Woroschilowgrad erscheinen.“ Er fragte nach Fahrscheinen.
  2. Der (Vorsteher) sagte: „Welche Fahrscheine? Sehen Sie nicht, dass bombardiert wird? Es gibt keinen Fahrplan mehr. Gehen Sie in die Stadt.“ Daneben stand eine Offiziersfrau, die auch weg wollte. Sie sagte: „Hören Sie nicht auf ihn…“ Im Allgemeinen warteten die Litauer auf die Deutschen wie auf Retter.
  3. „Hören Sie nicht hin, vergessen Sie die Fahrscheine. Da steht ein Zug, der nach Moskau gehen soll. Steigen Sie mit Ihren Kindern ein und warten Sie da. Vielleicht fährt der Zug ab, vielleicht wird er zerbombt. Es sind aber keine Fahrscheine nötig.“ Wir stiegen ein. Der Luftangriff ging weiter, der Vater sagte: „Legt euch unter die unteren Liegen.“ Das war ein einfacher Liegewagen. Wir saßen aber am Fenster und guckten, was los war.
  4. Die Leute stiegen aus und befürchteten, dass der Zug gleich abfährt. Sie rannten dann zurück und hatten Angst, durch die Bomben ums Leben zu kommen. Das blieb mir im Gedächtnis. Mein Bruder und ich sahen dann so ein Bild durch das Fenster: Da ging ein litauischer Lokführer, gefolgt von einem sowjetischen Offizier mit Pistole, der ihn zwang den Zug zu fahren. Und der Zug fuhr ab. Wir hatten kein Essen, nichts dabei.
  5. Bis Minsk konnte man nichts kaufen, alles war zerstört. Vor Minsk gab es eine große Menge von Panzern usw. … Der General (dort) wurde dann auch erschossen. Sehr viele Panzer und Kanonen. Wir sahen, dass irgendeine Verteidigung (versucht wurde). Wir kamen an und fuhren gleich weiter. Oder übernachteten wir da? Das weiß ich nicht. Also, wir kauften da Fahrscheine und fuhren bis Woroschilowgrad.
  6. Später erfuhr ich von (Vladimir) Porudominski, der über das Ghetto in Vilnius geschrieben hat, dass das der einzige Zug war, der Vilnius verlassen konnte. Der einzige. Wir fuhren mit ihm ohne Fahrscheine. Wenn mein Vater nicht verpflichtet gewesen wäre, beim Kommissariat zu erscheinen, wären wir da geblieben und wie alle seine Verwandten umgekommen.