Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. In zweiter Ehe heiratete meine Mutter Ewriwiad Ionkis. Zu Hause wurde er Willi genannt. Und das entschied alles. Er stellte sich als Willi vor, und sie verstand, dass ihr Schicksal es so wollte: Gott schickte ihr den zweiten Willi. Den ersten liebte sie sehr, war aber sicher, dass er erschossen worden war. Damals hieß es, er sei Spion, sie müsse schnell fort.
  2. Der Werksdirektor sagte: „Ich kann nicht helfen.“ Zehn Tage später wurde er auch verhaftet, das war wirklich massenhaft. Und als wir dann weg wollten, war mein Stiefvater... Für mich war er nicht wie mein Vater, er war eher mein Großvater. Er war für mich wie ein Onkel. Er trug einen schwarzen Seemannsmantel mit gelben Knöpfen und eine Schirmmütze.
  3. Seine Pistole „Bayard“ ließ er auf dem Piano liegen, neben der Puppe Katja in unerreichbarer Höhe. Einmal holte er meine Mutter und mich im Luftschutzraum ab und sagte: „Wir müssen gehen!“ Das war so etwas wie tierischer Instinkt. Sie liefen weg, er trug mich auf den Armen.
  4. Und ich sah einen Schatten vor uns, denn alles brannte. Ich hatte so viel Angst vor diesem Schatten, ich begriff nicht, dass das unser Schatten war. Er sagte: „In zwei Tagen kommt ein LKW, das ist die letzte Chance hier wegzukommen. Man darf nur zwei Koffer mitnehmen, sonst nichts.“
  5. Wir nahmen die zwei deutschen Koffer meines Vaters mit. Einer steht hier bei mir im Keller. Der Koffer ist auf diesem Bucheinband abgebildet. Also zwei Koffer, und die Großmutter nahm noch den Kopf der Singer-Nähmaschine mit. Und so fuhren wir mit den anderen Familien auf dem LKW. Es war in der Nacht, mir war es bange. Ich schlief dann ein und sah nach dem Aufwachen einen Wald und blaue Vögel.
  6. Erst viele Jahre später, als ich im Kaukasus war, erfuhr ich, dass das Eichelhäher waren, sie sind sehr schön. Der Stiefvater begleitete uns bis zu einer Station, dann fuhr er zurück. Wir sahen ihn lange nicht mehr. Der Großvater blieb in der Stadt, er wurde als Schlosser mobilisiert – anders als meine Mutter. Meine Mutter trug auch keine Uniform, durfte aber nicht fehlen. Aber meine Mutter durfte dann wegfahren.
  7. Wir wussten nicht, was mit ihm los war. Wir kamen dann irgendwie nach Machatschkala am Kaspischen Meer. Wir wohnten dort bei einer unfreundlichen Frau, aber wer braucht schon Evakuierte? Wir waren bei ihr wohl einige Wochen. Und dann fuhren wir mit dem Schiff über das Kaspische Meer nach Krasnowodsk.
  8. In Krasnowodsk kamen wir in einem Keller unter: die Großmutter, Mutter und ich. Da gab es kein Trinkwasser, alle mussten Wasser im Hafen holen, in einer Teekanne oder so. Wir hatten nicht einmal einen Eimer. Es gab kein Trinkwasser, geschweige denn welches zum Kochen und so weiter.
  9. Eines Tages waren wir im Hafen, meine Mutter hielt mich in den Armen. Und ich sah meinen Großvater. Ich brüllte sehr heftig, ich schrie und heulte wie ein erwachsener Mensch. Der Großvater hörte das, er kämpfte sich zu uns durch. Er kam gerade an und sagte dann: „Ich weiß nicht, wo Willi ist.“ Meine Mutter lief dann zum Hafen und versuchte etwas über Willi zu erfahren. Schließlich erfuhr sie, dass er lebt, und kurz danach kam er nach Krasnowodsk.