Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich hatte eine Freundin, sie hieß Allotschka Poroschuk. Ihre Familie war unter deutscher Besatzung (in Odessa geblieben). Sie hatten ein Piano und schöne Sachen zu Hause, Allotschka hatte Goldschmuck. Ihr Großvater war Tierarzt.
  2. Erst vor 10 Jahren erfuhr ich, dass ihre Mutter eine echte Jüdin war. Und der Großvater, ein Tierarzt, war Russe oder Ukrainer, er rettete sie. Er schüttete Schwefelsäure über ihre Dokumente und fälschte ihren Namen. Und Fany Kaufman hieß dann Feodossija Leonidowna.
  3. Auch Allotschka wusste nichts davon. Eine Großmutter von ihr, Sina, stammte aus einer Priesterfamilie. Ich kann mich an die christlich-orthodoxen Feste erinnern, als im Winter „kutja“ zubereitet wurde, alles war bestens. Die Großmutter Fanja sah so bleich aus wie ein Mehlwurm.
  4. Ich hatte keine Erklärung dafür. Sie saß vier Jahre lang im Keller. Der Vater ihres Schwiegersohnes oder nach jüdischem Wortgebrauch ihr „mechuten“ rettete sie. Fanja konnte sogar Schinken und Würste da räuchern. Sie konnten irgendwie überleben. Sie wurden nicht evakuiert und haben so ihren Besitz nicht verloren.
  5. In meiner Kindheit gab es einige prägende Momente. Der erste war das Opern- und Ballett-Theater in Odessa. Ballett war wichtiger. Die Sache ist die: Mein Stiefvater Willi Ionkis war Odessit. Er wurde zwar in Paris geboren, nach seinen Papieren aber in Odessa. Sie hatten dort in Paris ihr Glück gesucht.
  6. Sein Freund Aranowitsch war Direktor des Theaters. Wir durften sonntags bei allen Morgenvorstellungen in seiner Loge sitzen. Mein Stiefvater nahm mich und Allotschka mit, später war auch Irotschka dabei. Ich habe mehrmals alle Ballettaufführungen gesehen.
  7. Ich träumte vom Ballett und wollte sogar Unterricht nehmen, aber es hieß, dass ich nicht ganz geeignet bin, ich könne nicht Ballerina werden. Ballettaufführungen und die Oper Carmen machten auf mich einen unvergesslichen Eindruck. Alle gingen arbeiten, und ich blieb alleine zu Hause und sang vor dem Spiegel alle Arien – männliche und weibliche. Das spielte eine große Rolle in meinem Leben.
  8. Und das zweite: Ich wuchs in einer Seemanns-Familie auf. Die Seemannstraditionen waren sehr fest verankert. Die Seeleute waren in der Stadt, sie fuhren zur See. Mein Vater war ein „Land“-Seemann, er konnte übrigens nicht schwimmen. Er wuchs im jüdischen Kinderheim auf, sie gingen dort nicht schwimmen. Es gab auch viele Kapitäne und alle möglichen Seeleute. Und die Kinder eigneten sich das alles irgendwie an.
  9. Im Sommer... In der UdSSR gab es keine Pfadfinder. Aber die älteren Jungs lebten dies instinktiv aus und verbreiteten es in unserem Hof. Der Hof war nicht asphaltiert. Da wurde der Umriss eines Schiffs aus Draht gefertigt. Meine Mutter nähte und färbte eine Flagge, das war beinahe ein zaristisches Andreaskreuz, allerdings mit einem roten Stern. Sie konnte sich an das Andreaskreuz erinnern. Aber keiner hat uns denunziert, nichts in der Art.
  10. Jeden Abend und jeden Morgen traten wir an, um die Flagge hoch oder runter zu ziehen. Unser beliebtes Lied im Hof war „Warjag“. Ich bekomme immer noch eine Gänsehaut, wenn ich es höre. Die Seemannstraditionen prägten sich auch ein.
  11. Allerdings sagen viele Leute zu mir, dass ich eine deutsche Liebe zur Ordnung hätte, das hätte ich geerbt. Trotzdem war es so: Ehre und Seefahrtstatute, das alles zählte. Zudem besuchte ich zusammen mit meinem Vater Schiffe, er hatte sehr viele Bekannte, Kapitäne und Nicht-Kapitäne.
  12. Aber es gab keine Prügeleien. Nur einmal habe ich mich mit einem Jungen geprügelt, der mich „Shidowka“ genannt hat. Er bekam, was er verdient hatte. Allerdings zerriss ich während der Verfolgung durch zwei Innenhöfe mein amerikanisches Kleid und verletzte mich am Arm.
  13. Aber dieser Walka bekam seine Strafe. Sein Vater brachte ihm ein Fahrrad aus Deutschland mit. Ich selbst kann nicht Radfahren. Aber er erlaubte keinem, mit seinem Fahrrad zu fahren, so knauserig war er. Ja, er bekam seine Strafe.
  14. Das waren unsere Kindheitsjahre. Daher schien alles gut zu sein. Viele von unseren Emigranten werden oft nostalgisch. Nicht weil sie Heimweh haben, sondern weil sie eher ihre Jugend vermissen.
  15. Wissen Sie, sie haben eine Altersnostalgie: ich war damals wer... Natürlich warst du es, du warst jung und gesund, du konntest dies und das. Aber schau dich jetzt an! Das will keiner. Ja, das ist schon ein Problem, sicher.