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Danach lief eine Unteroffiziersgruppe auf mich zu. Sie liefen dann weiter und plötzlich hörte ich sie aus der Entfernung zu mir reden: „Krieche zu uns, wir helfen dir unter die Sonnenblumen zu kriechen.“ In der Nähe war ein riesiges Kolchosfeld mit Sonnenblumen. Es war August, die Sonnenblumen standen hoch.
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Sie halfen mir. Ich sagte: „Wie soll ich kriechen? Ich bin verwundet.“ Sie erklärten mir: „Lege dich auf den Rücken und (bewege) dein heiles Bein und den Kopf.“ Ich versuchte es, kam etwas weiter und sagte: „Ich kann nicht mehr.“ Sie sagten: „Bewege dich, sonst gehen wir, wir warten nicht lange.“ Ich kroch noch ein Stück, zwei liefen über die Feldstraße, die an dem Sonnenblumenfeld entlang führte.
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Sie griffen mir unter die Arme und schleppten mich etwa 15 Meter weiter ins Sonnenblumenfeld. Zwei Stunden später durchkämmten die deutschen Gebirgsjäger dieses Feld. Mir war klar, wer sie sind. Ich wusste das auch vorher, die Gefangenen erzählten: Die Gebirgsjäger machen keine Gefangenen. Das war so eine Tradition, eine sehr schlechte.
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Sie taten es jedoch, und ich wusste das. Sie gingen aber nicht direkt auf mich zu. Das waren zwei Gruppen, eine war weiter entfernt und eine seitlich von mir. Ich fragte: „Werden Sie mich erschießen?“ – auf Deutsch natürlich. Ich sagte es genauso wie gerade. Ich benutzte irgendwie das Futurum. Einer von denen antwortete: „Nix, nix!“ Ich entschied für mich, er sei Berliner. Sie gingen ihren Weg weiter, er sagte sonst kein Wort, nur „nix“.
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Ich schlief ein und spürte dann plötzlich: Jemand stieß mich in den Rücken. Ich lag auf der Seite. Ich öffnete die Augen – die zwei standen über mir und sagen nichts. Ich sagte auch nichts, stellte keine Frage. Sie kehrten um, gingen zur Straße und flüsterten im Gehen miteinander. Ich blieb liegen.
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Plötzlich sah ich, wie die Sonnenblumen direkt an meinen Füßen wie geschnitten umfielen. Und die Schüsse hatte ich eigentlich nicht gehört. Daraufhin wiederholte es sich am Kopf – einige Sonnenblumen fielen wie geschnitten um. Ich sah diese Deutschen nie mehr in meinem Leben.
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Jedes Mal stelle ich mir so eine Frage: Ihnen lag halb Europa zu Füßen, schießen konnten sie gut. D.h. entweder gab der die Schüsse ab, der zu mir „Nix, nix“ gesagt hatte; vielleicht meinte er, er müsse sein Wort halten, wie es menschlich wäre, wie ein Mann. Oder ich hatte den mir vorherbestimmten bitteren Kelch noch nicht ganz geleert.
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Und gleich danach bekam ich einen furchtbaren Durst – alle Verletzten haben Durst. Hunger hat man nicht – ich hatte ja seit Tagen nicht gegessen und hatte trotzdem keinen Hunger, nur Durst. Nachmittags regnete es auf einmal heftig, die Russen sagen dazu „wie aus einem Eimer“, ein Platzregen. Ich lag zwischen den Sonnenblumen, ihre Blätter sind groß und wie Schüsseln, da sammelt sich das Wasser.
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Ich dachte: „Nun kann ich den Durst löschen.“ Ich probierte es, das Wasser schmeckte aber sehr bitter. Ich konnte es nicht herunterschlucken, so bitter war es. Dann sah ich kleine Pfützen auf der Erde neben mir – der Regen war sehr stark. Ich beugte mich und begann zu trinken. Meine Lippen berührten gerade das Wasser… Und mein ganzes Gesicht war mit Blut verschmiert, am Kopf und Gesicht hatte ich viele Splitter(wunden), dieses Ohr war in zwei Teile gerissen.
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Ich spürte das aber nicht. Und das Blut tropfte von meinen Lippen ins Wasser und bildete Ringe, die sich ausbreiteten. Ich realisierte: Das ist ja mein Blut, nein. Die Juden dürfen grundsätzlich kein Blut zu sich nehmen, allen Lügen zum Trotz. Und das eigene Blut umso mehr. Ich habe es nicht getrunken, ich konnte es nicht. Ich löschte den Durst am zweiten Tag nach der Verwundung. Nein, am dritten Tag.