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Dann aber begann die Hungersnot, und – wie leid es mir tut – die Mutter starb. Ehrlich gesagt, wir hatten kein Geld für ihr Begräbnis. Es gab aber die Gemeinde, und wir hüllten sie nach jüdischem Brauch in ein Bettlaken – ein Leichenhemd. Man fertigte eine Tragbahre aus Brettern an. Bis zum Friedhof waren etwa drei Kilometer.
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Bei uns in der Wohnung wohnte ein religiöser Jude, er hieß Kenes. Er las den Kaddisch vor, das Totengebet. Wir trugen sie zum jüdischen Friedhof und bestatteten sie dort. Es wurde natürlich auch eine Holztafel aufgestellt. Das Leben ging aber weiter. Und sie starb. Ich weiß noch, wie ich Armer sie im Krankenhaus besuchte. Sie schaute mich mit schon eingefallenen Augen an und blickte abschiednehmend.
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Wenn ich daran denke, tut mein Herz weh. Sie liebte ihre Kinder so sehr, sie war eine treue Mutter und gab den Kindern alles. Sie hatte schlechte Kleidung, sie trug einen Regenmantel bei der Kälte. Und sie starb, wir verwaisten, ein Kind kleiner als das andere. Die Kleinste, Faina, wurde von einer kinderlosen Familie aufgenommen, der Nachname war Druker.
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Er war Frisör und sie arbeitete als Buchhalterin bei der Post. Mein Schwesterchen erzählte mir dann später, sie hätten nicht gewollt, dass wir wissen, bei wem sie ist. Sie wusste überhaupt nichts von uns. Was heißt: wusste nichts? Ich hatte schon etwas Grips und wollte, dass sie von uns weiß. Ich besuchte sie in der Schule und sagte: „Ich bin Mischa, dein Bruder.“
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Also, sie wurde adoptiert. Und Shenja und Mitja... Shenja hatte ihren Vornamen bereits vor dem Krieg bekommen, als jüdische Namen nicht mehr vergeben wurden. Die (Russland-)Deutschen änderten ihre Namen auch, weil sie nicht willkommen waren. Kurz gesagt, (meine Geschwister) wurden in das Waisenhaus im Dorf Iwanowo, Gebiet Winniza, geschickt. Und sie blieben dort im Waisenhaus. Und was war mit mir? Nach dem Krieg hatte ich keinen Schulunterricht, ich konnte nicht hin. Die Mutter hatte (schließlich) vier Kinder, sie und ich hatten dafür sorgen müssen, dass sie nicht verhungern.
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In der Sowjetzeit ging ich wieder (zum Bahnhof) und schleppte auf meinen schwachen Kinderschultern Säcke von Kohle, 32 Kilo schwer. Ich guckte, wo ich ein Stück Kohle klauen kann, wir haben das ja gelernt.
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In der Zeit des Hungers sah ich mal so eine Szene: Ein Mann fragt eine Frau nach Brot. „Ich habe eine Hälfte“ – „Wie viel?“ – „120“ – „Verkaufst du es billiger?“ – „Nein, 120“ – „Na gut, 110. Gib mir Brot! Keine Angst, ich bezahle.“ Kaum hatte sie ihm das Brot gegeben, begann er hastig zu essen. Sie schlug auf ihn ein und schrie: „Gib mir das Geld!“
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Er aß weiter und blickte ganz wild. Er war bereit, jemanden zu töten, zu zerreißen, bereit zu allem. So war die Zeit, das sah ich mit eigenen Augen. Wir Jungs klauten auch auf dem Markt. Einer lenkte ab, der andere schnappte etwas und verschwand schnell. Hunger ist eine furchtbare Sache, ich sah nichts Schrecklicheres, Menschen werden zu Bestien.